Zeitenwende
Text von Thomas Macho
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Wer heute nach den Schlüsselworten unserer Gegenwart sucht, stößt rasch auf die Rede von einer Zeitenwende, die durch schwere Krisen – Kriege, drohende Hungersnöte, Pandemien und Klimawandel – herbeigeführt werde. Die nahezu täglich beschworene Zeitenwende lässt sich konkretisieren: als Forderung nach einer ökologischen Wende, einer Energiewende, einer Mobilitätswende, einer Ernährungs- und Fleischwende. Als Anthropozän wird das Zeitalter einer durch die menschliche Gattung herbeigeführten planetarischen Krise bezeichnet; doch zum Anthropozän gehört auch die Hoffnung, dass die Menschheit diese umfassende Krise bewältigen könnte. Manchmal wird zwar bezweifelt, dass die notwendige Zeitenwende gelingt; dann aber wird die Rede von der Zeitenwende in die Imagination einer Endzeit, eines Weltuntergangs transformiert. Die alten Szenarien der Apokalyptik werden wiederbelebt, freilich ohne die Erwartung einer himmlischen Stadt, in der Gott selbst die Tränen der Einwohnerschaft abwischen und alle Schmerzen, ja sogar den Tod, auslöschen werde.
Zeitenwende: Die Zeit erschien den meisten Kulturen in doppelter Gestalt. Einerseits als himmlische Zeit, als komplexes System der Zyklen, Wanderungen und oft verschlungenen Bewegungen der Himmelskörper, andererseits als irdische Zeit, als Wechsel der Geburten und Tode, als Ordnung der Generationen, als Chronologie und Geschichtsschreibung. Zyklische oder lineare Zeit? Beide Zeitgestalten waren nicht verlässlich. Während die Zyklen von Sonne, Mond und Planeten ihre mathematische Berechnung jahrtausendelang erschwerten, wurden die Register der Abstammung häufig verwirrt: Kinder starben vor ihren Eltern, und Kriege, Seuchen oder Hungersnöte vernichteten die Archive. Auch die meisten Versuche, die Systeme der himmlischen und der irdischen Zeit durch Mythen, Rituale oder Horoskope zu koordinieren, blieben fragil. Die Sterne konnten lügen, und nicht selten scheiterte die mit gewaltigen Anstrengungen unternommene Repräsentation der Himmelsrhythmen in den irdischen Zeiten. So eng konnte ein König, beispielsweise im altägyptischen Bestattungsritual der Pharaonen, gar nicht mit der Sonne assoziiert werden, dass sein Tod die Gemeinschaft nicht in tiefe Verwirrung gestürzt hätte. Und bei aller Genauigkeit der Voraussagen von Sonnenwenden oder Äquinoktien ließen sich nicht einmal die Erfolge der nächstjährigen Ernte verlässlich prognostizieren. Bekanntlich avancierte ein junger Hebräer zum Berater des Pharaos, weil er – durch Traumgesichte belehrt – sieben fette und sieben dürre Jahre anzukündigen vermochte. Er verfügte demnach über einen damals sensationellen Planungshorizont von vierzehn Jahren.
Denn die Kulturen der Alten Welt waren stets bedrohte Kulturen. Hunger, Kriege, Seuchen oder Naturkatastrophen gefährdeten nicht nur die Individuen, sondern oft genug auch das Überleben der jeweiligen Gemeinschaft. Ihre Grundfrage lautete darum: Wer oder was schützt uns vor dem drohenden Zusammenbruch, nicht in ferner Zukunft, sondern morgen, in der nächsten Woche und im neuen Jahr? Dieser drängenden Frage musste eine Antwort erteilt werden, die durch Beobachtungen fundiert, aber auch durch Rituale inszeniert, narrativ wiederholt und den Bevölkerungen eingeprägt werden konnte. Astronomische Aufzeichnungen verlangten geradezu nach ihrer Übersetzung in kulturelle Praktiken und mythische Erzählungen; so materialisierte sich beispielsweise die Berechnung der Wintersonnenwende in zahlreichen Festen und Zeremonien. Erst die konkrete Integration von Kalenderkalkülen, Mythen und Ritualen verlieh der Zeit – als himmlischer und als irdischer Zeit – einen erfahrbaren Ausdruck, der die allgegenwärtige Untergangsdrohung, die pure Kontingenz des Schicksals, abschwächte.
Nicht zu Unrecht wurde daher immer wieder ein enger Zusammenhang zwischen kosmogonischen Mythen, Systemen der Zeitrechnung und rituellen Praktiken vermutet. 1969 haben der italienisch-amerikanische Wissenschaftshistoriker Giorgio de Santillana und die Frankfurter Ethnologin Hertha von Dechend den Nachweis zu führen versucht, dass die Mythen der alten Kulturen auf Himmelsbeobachtungen und astronomisch komplexen Konstruktionen beruhen. Solche Theorien demonstrieren auch ein methodisches Problem, das der modernen Ausdifferenzierung der Wissenschaften entspringt. Wir sind daran gewöhnt, das Altertum aufzuteilen in die Felder der Kunstgeschichte, Wissensgeschichte oder Religionsgeschichte. Implizit wird dann angenommen, dass Kunstwerke auf andere Kunstwerke verweisen, mathematische Erkenntnisse auf andere mathematische Erkenntnisse, Mythen und Rituale auf andere Mythen und Rituale. Tatsächlich bilden aber Kunst, Wissen und Religion in den Kulturen der Alten Welt eine Einheit, die sich den methodischen Spezialisierungen moderner Wissenschaften widersetzt. Die Einheit von Kunst, Wissen, Mythologie und kultisch-ritueller Praxis kennzeichnet in besonderem Maße die frühe Geschichte des Umgangs mit der Zeit: astronomische Aufzeichnungen, Kalenderrechnungen und religiöse Festinszenierungen.