Verlust im Raum und von Raum

Von Vera Schroeder

Fotografie von Ira Grünberger

Lesedauer: 10 min.

 

Alles muss sich ändern. Alles wird anders. Alles soll anders. Alles muss anders. Der Klimawandel, so fühlt es sich an, stellt alles infrage, woran die Menschen zuletzt noch fest geglaubt haben. Dazu das Artensterben. Der russische Krieg. Die Stickstoffkrise. Energiekrise. Ach, Energie.

Energie wird geraubt. Aus dem Pipelineleck durch das Wasser in die Luft hinauf sprudelnd. Von der schlechten Heizung. Den undichten Fenstern. Den Autos, die nicht mehr in die Parklücke passen. Von den Schurken. Den Staaten, die wir Ölstaaten nennen – Organization of the Petroleum Exporting Countries mit Sitz in Wien. Geraubt von der Erde, unseren Kindern und Enkelkindern, aus der Erde, ganz tief unten, herausgefrackt oder gebohrt. Unter den Mooren, den Wäldern im Kongo dreißig Milliarden Tonnen Kohlendioxid: Erdöl, Erdgas. Energieraub der Schneekanonen an einem Frühlingsjanuartag. Der elektrischen Zahnbürste, der Teenie streitet, Handputzen nervt. Was ist deine größte heimliche Energiesünde? Die Krise, die Krisen rauben Energie. Uns. Den Müttern nach Corona. Dem Hirn, das so viel denken muss. Den Vorständen und ihren Nachhaltigkeitsabteilungen und der Konditormeisterin mit dem Schild im Schaufenster: Beim Kauf einer Sonntagssemmel gehen zehn Cent in die Ukraine. Die Krisen rauben Energie vom Mensch an sich, dem größten Gewohnheitstier von allen. Was kann eine Krise, was können alle diese Krisen zusammen? Was soll ich in allen diesen Krisen tun? Warum all die Energie in all die Gedanken und wer fragt eigentlich nach meiner Energie?

Der Mensch, das Gewohnheitstier, aber auch der, der sich entwickelt. Der entwickelt. Der verdammt, wenn sich was entwickelt. Der »Genderwahnsinn!« schreit, wenn er »Verlustangst!« meint und »Ich muss, ich kann jetzt nicht anders als verdrängen!«. Für den Verlust eine negative Geschichte ist. Und Reduktion die schüchterne Großmutter des Verlusts. Ein bisschen bescheidener, aber im Grunde aus derselben Familie. Erst Reduktion und dann Verlust, so kennt er das schon immer, der Mensch, oder zumindest, wenn er in Panik ist. Und das ist er. I want you to panic. Funktioniert. Hat sowas von funktioniert. We panic. Keine Korallen mehr, keine Gletscher, keine Fische mehr im Nil, bye bye Rapa Nui, die Tundra brennt ab, keine Friedensdemos mehr, weil da stehen jetzt auch die Querdenker rum. Arme Taube. Keine Komplimente mehr, keine I*s und N*s in Kinderbüchern, ach dieses Schnitzel. Lesbarkeit! Und hast du gesehen, wie teuer die Flüge nach Faro geworden sind? Butter? Essen gehen? Schwimmbadeintritt?

 

 

Der Fokus auf den Verlust. Solastalgie. Das belastende Gefühl des Verlusts, das wir alle spüren, wenn der See aus der Kindheit nie mehr zugefroren ist und die Bäume im Winter von Misteln überfallen sind. Wir alle. Das andere Wir. Wenn die Insel Gardi Sugdub vor der Küste Panamas bis 2050 komplett verschwindet, nennt man das auch Solastalgie? Oder Tod? Wohin mit all den Menschen? Die Todesursachen aufgrund des Klimawandels sind »vielfältig«, sagt die WHO. Fünfzehntausend Hitzetote in Europa, 2022. Wenn im Jemen … – niemals Jemen googeln, lieber Oman, liegt nebenan und hach, so ein interessantes Reiseland gerade, und wirklich: gar nicht mal so teuer! 2009 damals, unsere Syrienreise, weißt du noch? Was für ein Glück, dass wir die hatten. Wenn sich in Australien die Känguruhs nicht nur die Füße verbrennen: Solastalgie? Oder zu niedlich. Dieses »… algie«. Dann machen wir halt Wellness statt Skihotel. Dann machen wir halt Naturweinanbau in Schottland. Dann machen wir halt Zitrusfrüchte statt Äpfel, überhaupt die Äpfel, für wen lohnt sich denn so ein einsamer, dummer Obstbaum noch? Mistelplage, weil sich die Streuobstwiesen nicht mehr rentieren und die Bauern aufgehört haben, die Misteln aus den Bäumen zu schneiden. Schnappt sich die Misteldohle eine klebrige Mistelbeere, kackt sie genauso klebrig wieder aus, wie sie gefressen wurde, und heftet sie so an den nächsten Baum. Schau mal nach oben, überall: Misteln. Machen die Bäume kaputt. Saugen sie aus. Dont look up. Schönste Szene: dieser Schluss. Der Schluss beruhigt mich. Am Ende können wir eh nichts machen, außer lieb mit den Lieben sein. Only love can break your heart. Und jetzt alle. »Während Nostalgie auf die Vergangenheit gerichtet ist, bezieht sich Solastalgie auf die Gegenwart der Zukunft«, steht auf Wikipedia. Wir werden nicht mehr campen können auf Korsika, weil niemand einen Baum nachts heimlich auf den Kopf geknallt kriegen will. Kümmern die sich nicht darum? Nein, TÜV-geprüft is over. »Weitere Studien von Gemeinden in den Appalachen, die vom Kohleabbau per Mountaintop Removal betroffen sind, stützen die Theorie der Solastalgie.Gemeinden, die sehr nah am Abbaugebiet liegen, haben eine signifikant höhere Depressionsrate als weiter entfernt gelegene«, heißt es weiter bei Wikipedia. Doolow, in Doolow in Somalia stehen auch viele Zelte.

Gesucht wird auch ein Begriff für die schamvolle Freude über sechs freibadtaugliche Wochen in Berlin am Stück. Den Englandurlaub mit Temperaturen wie am Mittelmeer. Der Verlust geht vor, sagt die Scham. Die Drohung. Die Zukunft voller Verluste. Prächtiger Giftfrosch (RIP 2020). Westliches Spitzmaulnashorn (RIP 2011). Wie schön bitte sind Schwarzstörche? Im Freibad in Heppenheim kann man heutztage braun werden wie einst nur auf Mallorca. Wer braucht noch Griechenland, wenn er Oberbayern hat? Wieviel Jahr’ a noch vergeh’n, irgendwann bleib I dann durt. 

Die Gleichzeitigkeit. Leichtigkeit fehlt. Nicht die dumme Leichtigkeit, die aus dem Achtsamkeitsseminar kommt oder verlogenen Mantras von Instagram; von dem Therapeuten, der behauptet, es sei deine Krise. Ist es nicht. Der Verlust ist echt. Die Empathie gebietet das Empfinden des Verlusts. Verdrängungskämpfe an der falschen Ecke. Warum bestehen genau die, die in Genderdiskussionen darauf bestehen, dass es wichtigere Themen geben muss als Gendern, dann stets auf weitere neunzig Minuten, in denen all die faden Takes zum Gendern nochmal ausgetauscht werden, statt über große Weltverluste (und Gewinne) zu sprechen? Idee: Was passiert, wenn wir den Gewinn im Verlust radikal priorisieren? Gendern. Mehr Gerechtigkeit. Mehr Stimmenvielfalt. Weniger Verletzung. Mehr leise. Mehr alle. Klima. Welt wird grüner. Autos raus. Luft besser. Weniger Gifte. Gerechtigkeit. Alles wird gut. Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch. Aber alles wird gut. Die Leichtigkeit muss gegen den Verlust erkämpft werden. Aber dann?

Wie soll man das aushalten, resilient bleiben, ohne die Augen zu verschließen und den Fortschritt im Verlust erkennen, ohne ignorant zu sein? Wo bleibt dein Mitgefühl? Zukunft. Zukunftsfähig. Zukünftige Ehefrau. Zukunftsrat. Nach vorne gucken. Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist. Zukunftsbaum. Zukunftsfroh. Zukunftsplan. Zukunftsroman. Zukunftsweisend. Ein Zukunftsszenario. Wie kommt es, dass es uns so vorkommt, als sei Verlust das Gegenteil von Zukunft, und was passiert, wenn wir ihn als Teil davon fester umarmen als den Gewinn? Eine Kultur des Verlierens. Verlust als Gewinn. Wie eine neue Sprache zu lernen funktioniert die Gehirnübung, die gewohnte Spur der Verlustklage zu verlassen und »ja, und« statt »ja, aber« zu sagen. Aber auf welche Spur setze ich dann meine Angst? Kannst du das, Spuren wechseln – oder magst du nur noch nicht? Darfst du das, Verluste umarmen, wenn währenddessen die Atolle von Kiribati endgültig im Meer versinken?

 

Vera Schroeder arbeitet als Wissenschaftsredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung und wenn die Zukunftsangst zu groß wird, hilft ihr nichts anderes als: noch mehr Wissen.

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