Reduzieret euch!

Text von Nele Sophie Karsten

Fotografie von Vincent Forstenlechner

Das Jetzt ist Chaos und das Außen unberechenbar, denn die Welt geht zugrunde und das Ich ist im Konsum erstickt. Der Glanz der Kaufgier ist erloschen und ja, die fetten Jahre sind jetzt wirklich vorbei. Wir verharren in den Blüten unserer Zerstörungswut und warten auf die nächste Naturkatastrophe. Indes sucht der Mensch Trost im Sinn. Weniger haben, mehr sein und Schluss mit Überfluss. Aufräumen gegen Anarchie. Zurück zum Ursprung also. Wir ordnen uns die Seele heil, denn Minimalismus macht müde Multiperformer munter. Oder? Eine Anleitung.

1. Urzustand Überfluss

Der Prototyp der wohlstandsverwahrlosten Mitteleuropäerin Anfang der zweitausender Jahre umgab sich gern mit Dingen, kaufte ein, häufte an, denn er verwechselte Ware mit Wohlgefühl und Besitz mit Befriedigung. Aus Überfluss wurde Überdruss, das Zuviel mutierte zur Zumutung und sowieso: Nachhaltig wollen wir jetzt leben. Jeder Säugling schreit, während er in seine reusable Stoffwindel scheißt: Das Ende des Planeten ist nahe! Schon der antike Denker Diogenes in seiner Tonne predigte, wahres Behagen finde Mensch in der Bedürfnislosigkeit. Zu Diogenes’ Ausstattung gehörten ein einfacher Wollmantel, ein Rucksack mit Proviant und einige Utensilien sowie ein Stock – sonst nichts. Also lasst weg, mistet aus, schmeißt heraus! Flugs, ihr Besitzfaschisten, reduzieret euch! Besitzt ihr noch oder lebt ihr schon?

2. Minimalismus unser

Millionen Menschen weltweit frönen dem Magic-Cleaning-Mantra der Ordnungs-Apostelin Marie Kondō: Wie Sie sich von Ballast befreien und glücklich werden. Bevor es an die lebensverändernde Arbeit geht, schwöret euch ein, ihr sinnsuchenden Gleichgesinnten. Minimalismus macht müde Multiperformer munter, ja! 

So sprechet im Chor:

Und führe uns nicht in den Konsumwahn,
sondern erlöse uns von den Dingen 
Denn dein ist die Reduktion und die Kraft
und die gefaltete Socke in Ewigkeit.
Amen.


3. Das Konzept

Los geht es mit dem Überbordwerfen von Überflüssigem. Teile dein Chaos auf in einzelne Baustellen: der vermaledeite Vorratsschrank, das Kuddelmuddel im Kleiderschrank und der Endgegner, die berstend vollen Boxen unter dem Bett, der Gipfel des Durcheinanders. All die unnützen Objekte, Nachweise der Konsummanie, die sich in den Ecken verstecken, gilt es in drei Kategorien zu gliedern: Aussortieren – Behalten auf Probe – Behalten. 

4. Radikales Reduzieren

Beim Ordnen der angehäuften Unnötigkeiten in die jeweilige Kategorie flüstert dir Struktur-Guru Madame K. ein penetrantes »Does it spark joy?«ins Ohr. Falls das zehnte Paar Schuhe nicht den kleinsten Funken Glück in deinem Inneren entzündet – rasch aussortieren. Wundern wirst du dich, wie wenig Materielles dir überhaupt den Hauch einer Regung zu entlocken vermag. Kitsch kann weg, größtenteils jedenfalls. Bewahrt wird das zum Leben Notwendige. Nein, die Apfelschälmaschine ist es nicht. Wer nach der großen Sortier-Orgie noch immer nicht genug hat, der rolle nun Strümpfe, Höschen und Pullover bis zum Ordnungsorgasmus. 

5. Entsagungsekstase 

Entzückt beglückt, die Hände in die Hüften gestemmt, labst du dich nun an der wohlsortierten Leere. In ihr hat alles seinen Platz und seinen Sinn. »Ein ordentliches Außen schafft ein ordentliches Innen«, rufen die mit Etikett versehenen Organizersysteme im Chor und endlich feuern die Gehirnzellen wieder im Takt. Du schenkst und spendest den Ballast an jene naiven Seelen, die noch immer glauben, Besitz sei Segen. Das kuratiert kahle Heim strahlt in schmuckloser Pracht. Ach, wie erfüllend ist die Übersichtlichkeit. Nie war das Hochgefühl vollkommener als in der anspruchsvollen Anspruchslosigkeit.

6. Weniger ist leer

Wie? Die Entsagungsekstase war etwa nur von kurzer Dauer und die Askese nervt? Das Glücksgefühl lässt nach und ein aufgeräumtes Heim räumt gar nicht wirklich auch die Seele auf? Sortiert, sediert, vom Frohsinn ignoriert merken die Konmari-Jünger: Nun sind sie wohl besitz- und seelenlos. Wie der Architekt Robert Venturi einst meinte: »Less is a bore.«Tja, weniger ist leer, nicht mehr. Minimalismus exkludiert. Mensch muss es sich leisten können, zu verzichten. Insbesondere, wenn die Einrichtung zwar minimal ist, aber aus edel kuratierten Luxusgütern besteht – und eher einer ausgeklügelt zusammengestellten Verzichtsperformance gleicht. Doch auch die überzeugtesten Struktursympathisanten werden zu guter Letzt erkennen: Wenn Ordnung das ganze Leben ist, bleibt ansonsten gar nicht mehr viel übrig. 

7. Ätsch, Askese! 

Erlösend klingt die frohe Botschaft durch das Internet: Frau K. räumt nicht mehr auf! Seit der Geburt ihres dritten Kindes bleibe bei ihr gar die ein oder andere Socke ungerollt. Jubeljauchzend atmet auf, wer glaubte, diese Frau sei in Wahrheit gar nicht Mensch, sondern Entrümplungsengel. Wie beruhigend. Gewiss, Ausmisten hat noch niemandem geschadet. Wovon es sich jedoch zu reduzieren lohnt, ist allemal eine peinvolle Minimalismusperfektion. Reduzieret euch nicht bloß von Dingen, sondern von Vorurteilen, Abhängigkeiten, Ignoranz und dem aussichtslosen Anspruch an Vollkommenheit. Ätsch, Askese!

Nele Sophie Karsten schreibt als freie Journalistin für Zeit, Zeitmagazin, Taz, Süddeutsche Zeitung und Spiegel. Sie hat Politikwissenschaft und Psychologie in Heidelberg und Paris studiert und anschließend die Deutsche Journalistenschule in München absolviert. 

 

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