Die Mensch-Maschine-Zivilisation
Text von Adrian Lobe
Lesedauer: ca. 6 Min.
Die Digitalevangelisten aus dem Silicon Valley prophezeien eine technologische Singularität, einen Moment der Geschichte, in dem die nichtbiologische die biologische Intelligenz übersteigen wird.Aber ist das überhaupt erstrebenswert?
Es vergeht kaum ein Tag, an dem der Öffentlichkeit nicht irgendeine neue Wundermaschine präsentiert wird. KI-Systeme spielen besser Schach, Go und Poker als der Mensch, sind dem Menschen sogar bei Krebsdiagnosen überlegen, werden nicht müde, streiken nicht und haben keine Launen. So rational, wie diese selbstlernenden Systeme operieren, kommt man sich als Mensch nicht nur ein wenig blöde vor; nein, manch eine:r wünschte sich diese kühl kalkulierenden Maschinen an den Schalthebeln der Macht.
Laut einer Umfrage, die das Center for the Governance of Change der IE University in Spanien 2019 durchgeführt hat, will jede:r vierte Europäer:in Politiker:innen durch Künstliche Intelligenz ersetzen. Je nachdem, von welchem Standpunkt man das Umfrageergebnis betrachtet, zeugt dies von einer schlechten Politiker:innenperformance oder einem sehr unterkomplexen Verständnis von Politik. Die Vorstellung, dass da im Präsidialamt ein berechenbarer Bot statt eines unberechenbaren Menschen sitzt, scheint bei Betrachtung der aktuellen Situation nicht nur Nachteile zu bergen – wobei sich die Frage stellt, nach welchen Wertvorstellungen der Computer programmiert würde und wie transparent diese Parameter wären. Doch in die Blackbox können selbst die Programmierer:innen nicht hineinschauen. So bleibt die KI ein wundervolles, rätselhaftes Etwas.
Wenn man sich anschaut, welche Fortschritte Künstliche Intelligenz auf dem Gebiet der Künste erzielt hat, dann hat die Frage, ob Computer kreativ sein können, eine gewisse Triftigkeit. KI-Systeme schreiben, malen und komponieren wie die großen Meister. So hat ein neuronales Netz Ludwig van Beethovens zehnte Sinfonie vollendet. Der Komponist hatte der Welt nur wenige handschriftliche Skizzen hinterlassen, doch die Software, die mit zahlreichen Werken gefüttert wurde, erlernte durch die Analyse von Klangmustern den musikalischen Stil und schrieb die Fragmente fort – als hätte Beethoven selbst zur Feder gegriffen. Ist das Kunst oder Künstlichkeit? Magie oder Mathematik? Oder eine kunstvolle Verbindung von beidem? Wird der Mensch entzaubert, wenn sich Artefakte auf mathematische Funktionen reduzieren lassen? Entlarvt uns KI in unserer eigenen Formelhaftigkeit? Wo wird dieser Schöpfungsprozess enden? Werden Computer dereinst so schreiben, wie Pablo Picasso malte? Oder so malen, wie Franz Kafka schrieb? Wie definiert sich Kunst und Künstlichkeit im Zeitalter maschineller Intelligenz, wo verlaufen die Grenzen? Ist der Mensch bloß Stichwortgeber der Maschine? Entwickeln Künstliche Intelligenzen ein Bewusstsein? Haben sie es vielleicht sogar schon? Was, wenn wir Menschen das gar nicht merken?
Die Digitalpropheten des Silicon Valleys, allen voran Googles Chefingenieur Ray Kurzweil, prophezeien eine technologische Singularität, einen Moment der Geschichte, wo die nichtbiologische die biologische Intelligenz übersteigen wird. Winzig kleine Superintelligenzen werden die Welt bevölkern und mit immer neuen Mustererkennungs- und Problemlösungskompetenzen den technischen Fortschritt entfesseln.
Wann dieser Zeitpunkt erreicht sein wird, ob es 2050 oder 2100 wird, da legen sich die Singularity-Jünger:innen nicht so genau fest. Dass es aber so kommen wird, gilt als ausgemacht. »Mit der Singularität«, schreibt Kurzweil in seinem Buch »Menschheit 2.0. Die Singularität naht«, »werden wir die Grenzen unserer biologischer Körper und Gehirne überschreiten. Wir werden die Gewalt über unser Schicksal erlangen«.
Die seltsam krude, biologistische Annahme dieser Theorie ist, dass die Existenz des Menschen auf Software beruht. »Der genetische Informationsunterschied zwischen Schimpansen und Menschen besteht lediglich in ein paar Hunderttausend Bytes«, schreibt Kurzweil. In der radikalmaterialistischen Vorstellung ist der menschliche Körper eine überkommene Hardware, deren »Prozessor«, das Gehirn, zu langsam läuft. Um die riesige Informationsmenge zu verarbeiten, müsse sich der Mensch mit Gehirnimplantaten zum Cyborg aufrüsten. In dieser »Mensch-Maschinen-Zivilisation«, wie Kurzweil es nennt, würden Biologie und Informatik eine Symbiose eingehen; das menschliche Denken würde mit der Maschinenintelligenz verschmelzen und die Evolution auf eine neue Stufe heben.