Putzen, bis der Prinz kommt?

Text von Beatrice Frasl

Lesedauer: 10 Min.

Kinder versammeln sich noch immer gern lagerfeuerartig um digitale Endgeräte, wenn ein Film läuft. Vor allem Disney-Filme prägen ganze Generationen. Aber: Was machen diese Geschichten, die Narrative, die Figuren mit uns? Wie sehr prägen sie uns lebenslang? Ist das Liebe, was wir dort sehen? Unsere Autorin Beatrice Frasl über heteroromantische Liebe und weibliche Antagonisierung bei Disney und darüber, wie wir von Rollenbildern in Disney-Filmen beeinflusst werden.

Ganz ehrlich: Von allen Disney-Filmen war »Cinderella« jener, den ich als Mädchen am wenigsten ertragen konnte. Ich wuchs mit den Prinzessinnen der 90er Jahre auf: mit der klugen und starken Pocahontas, mit Belle, die lieber liest, als gefällig zu sein, mit der in verbotenen Gewässern schwimmenden Arielle, die sich von ihrem Vater nichts sagen lässt, mit Esmeralda, die sich auch von einem Erzdiakon nichts sagen lässt. Die Disney-Prinzessinnen, die mir Vorbilder waren, waren frech und wild und stark und klug und weise. Cinderella hingegen war mir immer schrecklich unsympathisch und keineswegs Vorbild. Ich hielt ihre Fügsamkeit nicht aus, ihre Unterwerfung machte mich wütend, ebenso ihr Unwillen oder ihre Unfähigkeit, für sich selbst einzustehen.

Disney-Prinzessinnen stellen einen Spiegel dar, in denen Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit und Liebe der jeweiligen Zeit, in der und aus der heraus sie entstanden sind und entstehen, wunderbar abgelesen werden können. Und: Sie stellen gleichzeitig eine Art informelle Bildungsinstitution dar, durch welche diese Ideale reifiziert werden. Das gilt auch für Cinderella.

In der Forschung wird das Disney’sche Oeuvre in der Regel in (zumindest) drei Phasen eingeteilt: Da ist die Golden Era oder Walt Era von 1937 bis 1966, beginnend mit der Entstehung des ersten abendfüllenden Animationsfilms »Snow White and the Seven Dwarves« und endend mit Walt Disneys Tod. »Snow White« ist auf mehreren Ebenen ein revolutionäres Stück Kinogeschichte, unter anderem, weil Disney mit ihm ein neues Genre etabliert: Ein bekanntes Märchen wird zu einem animierten Musical gemacht, im Fokus der Erzählung steht eine weibliche Hauptfigur, und: eine heteroromantische Liebesgeschichte, die das Sein und Sehnen dieser weiblichen Hauptfigur (der Disney-Prinzessin) prägt. Ich nenne es »das animierte Prinzessinnen-Märchen-Musical«.

Durch einen Ehemann kann sie ihrer tristen Existenz voller Schufterei im Haushalt entkommen. Wie ironisch, dass doch faktisch in der Regel das Gegenteil der Fall ist: nämlich, dass die Schufterei im Haushalt mit dem Eingehen einer heterosexuellen Paarbeziehung erst richtig beginnt.

Nach Walts Ableben stürzte die Produktionsfirma in finanzielle und künstlerische Schwierigkeiten: Kein Film konnte so recht an die Erfolge von »Snow White«, »Sleeping Beauty« und »Cinderella« der Golden Era anknüpfen. Bezeichnenderweise wird die Zeit nach diesen drei Kassenschlagern auch als »the Dark Ages« bezeichnet. 1989 bis 1999 folgte dann die sogenannte Disney-Renaissance, die deshalb so bezeichnet wird, weil der alte Erfolg wiederhergestellt und sogar übertroffen wurde. Bewerkstelligt wurde das, indem man auf das alte Erfolgsrezept zurückgriff: das Prinzessinnen-Märchen-Musical. Der erste Film dieser Phase ist »The Little Mermaid«. Nach der Renaissance folgte eine experimentelle Phase, in der, ähnlich wie in den »Dark Ages«, eine Reihe von sehr untypischen, aber oftmals auch relativ erfolglosen Disney-Filmen entstand, unter ihnen »Chicken Little« oder »The Emperor’s New Groove«. Wenig überraschend stellte Disney fest, dass das Prinzessinnen-Märchen-Musical der sicherste Verkaufsschlager ist, weswegen die Phase nach 2009 auch als »Revival-Phase« bezeichnet wird: Ähnlich wie in der Disney-Renaissance wird seitdem auf das alte Erfolgsrezept gesetzt oder alte Animationsfilme als Live-Action-Verfilmungen reinterpretiert – ein kluger Schritt, der die Nostalgie und Kindheitserinnerungen jener, die in den späten 1980ern und 1990ern mit den Filmen der Renaissance aufwuchsen und jetzt Erwachsene sind, erneut kapitalisert.

Diese Phasierung bildet einen wichtigen Hintergrund, um die Veränderung klassischer Liebestropen in Disneyfilmen nachvollziehen zu können, so es doch in den drei genannten Phasen des Prinzessinnen-Märchen-Musicals – der Walt Era, der Renaissance und der Revival-Phase – zahlreiche Entwicklungen und Unterschiede gibt wie auch Referenzen (in jüngster Zeit oft auch ironische und augenzwinkernde) auf frühere Phasen.

»Cinderella« ist das zweite Prinzessinnen-Märchen-Musical der Walt Era und damit überhaupt das zweite seiner Art. In ihm finden sich zahlreihe Tropen, die Disney mit »Snow White« erfolgreich als Teil seines neuen Genres etablierte.

Zu Beginn des Filmes träumt Cinderella ihre »Dreams of happiness«, die eines Tages wahr werden sollen, und die geübte Zuseher:in weiß: Es handelt sich um die Erfüllung heteroromantischer Liebe. Durch das Fenster sieht man bereits das Schloss – vor einem in Rosa getauchten Himmel. Das Schicksal von Cinderella ist also von Anfang an besiegelt. Durch einen Ehemann kann sie ihrer tristen Existenz voller Schufterei im Haushalt entkommen. Wie ironisch, dass doch faktisch in der Regel das Gegenteil der Fall ist: nämlich, dass die Schufterei im Haushalt mit dem Eingehen einer heterosexuellen Paarbeziehung erst richtig beginnt. Während die Stiefmutter keinerlei Sanftheit oder Mütterlichkeit besitzt, wird Cinderella sehr fürsorglich und mütterlich gezeichnet. Sie umsorgt die Mäuse und Ratten, wie Schneewittchen die Zwerge umsorgt, und die Zuseher:in weiß auch hier: Die hier, die Junge, die Schöne, die Gute kann noch Mutter werden und die andere, die Alte, die Hässliche, die Verbissene, nicht. Die hier, die Junge, ist noch brauchbar, die andere, die Alte, nicht. »Cinderella« beginnt, wie auch die anderen Disney-Filme der Golden Era beginnen: mit einer Gegenüberstellung von Weiblichkeiten.

Die gute Frau auf der einen Seite: jung, schön, bescheiden, arbeitsam, potenzielle Mutter und Ehefrau; die böse auf der anderen: alt, unattraktiv, nicht interessiert an weiblichen Tugenden wie Bescheidenheit oder Fleiß, sondern eher interessiert an Macht und Einfluss.

Außerdem ist die Disney-Hexe nicht mehr brauchbar für den männlichen Blick, nicht mehr brauchbar als Reproduktionsgefäß, keine potenzielle Mutter und Ehefrau. Das ist vielleicht der wichtigste Unterscheidungspunkt zwischen den kontrastierten und antagonisierten Frauenfiguren, jener, der böser von guter Weiblichkeit unterschiedet: die Potenzialität von Mutterschaft und Ehefrauen-Dasein, so doch der klassische Disney-Film um die Heteroromanze kreist.

Die böse Stiefmutter ist nicht nur selbst uninteressiert an Romantik, sie versucht auch Cinderellas Liebesglück zu vereiteln, indem sie alles daransetzt, ihr den Besuch des Balles der Bälle, im Rahmen dessen der Prinz seine zukünftige Braut finden soll, zu verunmöglichen. Auch das ist ein Element, über das Disney-Bösewichtinnen oft als böse markiert werden: Sie versuchen, heteroromantische Liebe zu verhindern. Am weitesten geht hier die der Drag Queen Divine nachempfundene Ursula in »The Little Mermaid« aus der Disney-Renaissance: Sie nimmt Arielle sogar ihre Stimme und versucht dann in der Gestalt einer attraktiven Frau, den Angehimmelten selbst zu bezirzen.

 

Cinderella trifft auf dem Ball, zu dem sie es allen Widrigkeiten zum Trotz doch geschafft hat, zum ersten Mal auf den Prinzen und prompt ist es um sie geschehen: Liebe auf den ersten Blick. Aber nicht nur das. Es ist »true love«. True love, die auch augenblicklich besungen werden muss: »So this is love«, trällern die beiden Turteltauben gemeinsam. True love at first sight: also Liebe (nicht Verliebtheit) als etwas, das die von ihr Getroffenen plötzlich überkommt – als Naturgewalt und übernatürliche Kraft gleichsam – und das darauffolgende Besingen derselben ist eine weitere klassische Disney-Trope. Eine Trope, die in »Frozen« 2013 – einem Film der Revival Era, in der oft mit ironischen Referenzen auf alte Erzählelemente gearbeitet wird – satirisiert wird, wenn Elsa ihrer jüngeren Schwester entgegenschmettert: »You can’t marry a man you just met!«. Anders als frühere Disney-Filme endet »Frozen« auch nicht, nachdem Prinz und Prinzessin zusammenfinden, nein, der Prinz stellt sich sogar im Laufe des Filmes als Bösewicht heraus. Die Botschaft, die Disney hier sendet, hat sich also im Laufe der Zeit signifikant verändert: Vielleicht ist die Liebe auf den ersten Blick ja doch nicht die wahre. Vielleicht sollte das Objekt der Begierde näher und länger begutachtet werden. Die Filme der Golden Era enden noch im Moment der Eheschließung. Wer von den verehelichten Prinzen doch noch zum Bösewicht wird, erfahren wir nicht.

Ein wesentliches Element der Disney-Filme der Walt Era, zu welcher auch »Cinderella« zu zählen ist, findet sich, wie eingangs ausgeführt, in der antagonistischen Gegenüberstellung zweier Frauentypen.  Bei »Cinderella« sind es gleich mehrere Bösewichtinnen, die der schönen und guten Cinderella gegenübergestellt werden: die Stiefmutter und die zwei jungen (aber hässlichen) Stiefschwestern – Anastasia and Drusella. Während die Stiefschwestern eher tölpelhafte Mitläuferinnen sind, wird die Stiefmutter (die bereits bei Schneewittchen als Schreckbild der ultimativen Bösewichtin etabliert wird) als böses Mastermind gezeichnet.

 

Schneewittchens böse Königin kann als Warnung vor weiblicher Macht gelesen werden – oder vor der Macht des Weiblichen.

Eine Macht, die, auch das lehren uns die Filme, via Domestizierung durch einen Prinzen und ein Einfügen in Ehe und Mutterschaft gebändigt werden muss. Was passiert, wenn sie diese Bändigung nicht erfährt, sehen wir an den Beispielen der Bösewichtinnen der ersten Phase: die böse Königin und Hexe in »Snow White«, die böse Stiefmutter in »Cinderella« und Maleficent in »Sleeping Beauty« – allesamt alleinstehende Frauen. 

Auch der »True love’s first kiss«, mit welchem Cinderella endet und welcher Aurora in »Sleeping Beauty« sogar magisch aus dem todesgleichen Schlaf erweckt, verändert sich vor allem nach 2000: In »Brave« findet der Kuss zwischen Mutter und Tochter statt. In »Frozen« zwischen zwei Schwestern. In »Maleficent« gar zwischen der bösen Fee (von der sich im Laufe des Filmes herausstellt, dass ihr die androzentrische Disney’sche Rollenzuschreibung schlicht Unrecht getan hat und die gar nicht so sehr böse ist als vielmehr verbittert, traumatisiert und rechtmäßig wütend) und Aurora, der Schlafenden Schönheit. Letzteres ist signifikant, da hier die beiden verfeindeten Frauenfiguren – die Figur der Prinzessin und die Figur der Hexe – versöhnt werden, vielmehr noch, ihre Verbindung entpuppt sich als »wahre Liebe«, jene wahre Liebe, die Aurora aus ihrem Schlaf erweckt.  

Der heteroromantischen Lovestory wird bei Disney im Laufe der Zeit immer weniger Vertrauen geschenkt. Auch das artikulieren die bösen alten Frauen vermehrt: Maleficent erzählt ihrem Diener in der Live-Action-Neuverfilmung aus dem Jahr 2014, der Fluch beinhalte, dass nur der Kuss der wahren Liebe Aurora von ihrem todesgleichen Schlaf erlösen könne, gerade deshalb, weil es eine solche Liebe nicht gebe. Später erfahren wir: Der Kuss der wahren Liebe ist nicht der Kuss eines dahergelaufenen Prinzen. Sondern ihrer. Eine ähnliche Weltsicht artikuliert die böse Stiefmutter in der Live-Action-Neuverfilmung von Cinderella aus dem Jahr 2015: »Love is never free«. In diesem kurzen Moment scheint auch in der Figur der Stiefmutter Weisheit durch und ein Gewordensein, von dem man als Zuseher:in gern mehr erfahren möchte. Anders als in »Maleficent« aber bleibt es bei diesem kurzen Moment. 

Wichtiger als Beziehungen zu Männern, so Disney nach 2000, sind für die weiblichen Hauptfiguren Beziehungen mit anderen Frauen – jene zwischen Schwestern (»Frozen«), jene zwischen Töchter und Mütter (»Brave«), jene zwischen unterschiedlichen Generationen an Frauen (»Maleficent«). Das ist ein harter Bruch mit der alten manichäischen Gegenüberstellung und Antagonisierung zweier Weiblichkeiten.  

Doch auch hier verbleibt »Cinderella« 2015 in der Dichotomisierung der beiden Frauentypen und vertut damit eine Chance auf eine feministische Reinterpretation. 

Stattdessen wird eine alte Warnung wiederholt: die Warnung vor weiblicher Solidarität. Was, wenn sich die Königin und Schneewittchen nicht mehr dem männlichen Blick und dem Streben nach Schönheit unterwerfen, was, wenn sie sich nicht mehr als zueinander in Konkurrenz stehend und bekämpfenswert betrachten? Was, wenn die böse Stiefmutter und Cinderella zusammenarbeiten? Wenn weibliche Macht so gefährlich ist, dass sie als das absolut Böse dargestellt werden muss, was würde passieren, wenn sich Frauen zusammenschließen? Wenn sie einander mehr lieben als potenzielle männliche Partner oder ihre Aufmerksamkeit? 

Diese Fragen werden in »Maleficent« 2014 beantwortet. »Let us tell an old story anew and we will see how well you know it«. In »Maleficent« wird die Geschichte der dunklen Fee erzählt – der Hexenfigur aus »Sleeping Beauty«. Sie wird zur dreidimensionalen Figur, bekommt eine Geschichte, eine Genese. Und sie verbündet sich mit Aurora, der Prinzessin. Was dann passiert, erklärt, warum in Disney-Filmen Frauen als Konkurrentinnen konstruiert werden müssen anstatt als Verbündete: Aurora und Maleficent bringen den König zu Fall. Gemeinsam. Die Herrschaft der Welt der Menschen – die als Welt der Männer gezeichnet ist – wird gestürzt. Jene Welt der Männer, jene männlichen Herrscher, denen Maleficent zuvor »You are no king to me« entgegenschmetterte. Das Patriarchat wird gestürzt, wenn Frauen zusammenarbeiten. Eine neue, angsteinflößende Vision – sollte sich die Welt also vorsehen vor der Macht der Frauen? 

Bleibt zu hoffen, dass auch Cinderellas Geschichte und die ihrer Stiefmutter neu erzählt werden wird und sie zueinander finden können. Sie hätten es beide verdient. Wir auch. 

Dieser Artikel ist thematisch an die Produktion Cinderella des Bayerischen Staatsballett angelehnt.

Bildnachweis: Alamy (5)

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