Schneewittchens böse Königin kann als Warnung vor weiblicher Macht gelesen werden – oder vor der Macht des Weiblichen.
Eine Macht, die, auch das lehren uns die Filme, via Domestizierung durch einen Prinzen und ein Einfügen in Ehe und Mutterschaft gebändigt werden muss. Was passiert, wenn sie diese Bändigung nicht erfährt, sehen wir an den Beispielen der Bösewichtinnen der ersten Phase: die böse Königin und Hexe in »Snow White«, die böse Stiefmutter in »Cinderella« und Maleficent in »Sleeping Beauty« – allesamt alleinstehende Frauen.
Auch der »True love’s first kiss«, mit welchem Cinderella endet und welcher Aurora in »Sleeping Beauty« sogar magisch aus dem todesgleichen Schlaf erweckt, verändert sich vor allem nach 2000: In »Brave« findet der Kuss zwischen Mutter und Tochter statt. In »Frozen« zwischen zwei Schwestern. In »Maleficent« gar zwischen der bösen Fee (von der sich im Laufe des Filmes herausstellt, dass ihr die androzentrische Disney’sche Rollenzuschreibung schlicht Unrecht getan hat und die gar nicht so sehr böse ist als vielmehr verbittert, traumatisiert und rechtmäßig wütend) und Aurora, der Schlafenden Schönheit. Letzteres ist signifikant, da hier die beiden verfeindeten Frauenfiguren – die Figur der Prinzessin und die Figur der Hexe – versöhnt werden, vielmehr noch, ihre Verbindung entpuppt sich als »wahre Liebe«, jene wahre Liebe, die Aurora aus ihrem Schlaf erweckt.
Der heteroromantischen Lovestory wird bei Disney im Laufe der Zeit immer weniger Vertrauen geschenkt. Auch das artikulieren die bösen alten Frauen vermehrt: Maleficent erzählt ihrem Diener in der Live-Action-Neuverfilmung aus dem Jahr 2014, der Fluch beinhalte, dass nur der Kuss der wahren Liebe Aurora von ihrem todesgleichen Schlaf erlösen könne, gerade deshalb, weil es eine solche Liebe nicht gebe. Später erfahren wir: Der Kuss der wahren Liebe ist nicht der Kuss eines dahergelaufenen Prinzen. Sondern ihrer. Eine ähnliche Weltsicht artikuliert die böse Stiefmutter in der Live-Action-Neuverfilmung von Cinderella aus dem Jahr 2015: »Love is never free«. In diesem kurzen Moment scheint auch in der Figur der Stiefmutter Weisheit durch und ein Gewordensein, von dem man als Zuseher:in gern mehr erfahren möchte. Anders als in »Maleficent« aber bleibt es bei diesem kurzen Moment.
Wichtiger als Beziehungen zu Männern, so Disney nach 2000, sind für die weiblichen Hauptfiguren Beziehungen mit anderen Frauen – jene zwischen Schwestern (»Frozen«), jene zwischen Töchter und Mütter (»Brave«), jene zwischen unterschiedlichen Generationen an Frauen (»Maleficent«). Das ist ein harter Bruch mit der alten manichäischen Gegenüberstellung und Antagonisierung zweier Weiblichkeiten.
Doch auch hier verbleibt »Cinderella« 2015 in der Dichotomisierung der beiden Frauentypen und vertut damit eine Chance auf eine feministische Reinterpretation.
Stattdessen wird eine alte Warnung wiederholt: die Warnung vor weiblicher Solidarität. Was, wenn sich die Königin und Schneewittchen nicht mehr dem männlichen Blick und dem Streben nach Schönheit unterwerfen, was, wenn sie sich nicht mehr als zueinander in Konkurrenz stehend und bekämpfenswert betrachten? Was, wenn die böse Stiefmutter und Cinderella zusammenarbeiten? Wenn weibliche Macht so gefährlich ist, dass sie als das absolut Böse dargestellt werden muss, was würde passieren, wenn sich Frauen zusammenschließen? Wenn sie einander mehr lieben als potenzielle männliche Partner oder ihre Aufmerksamkeit?
Diese Fragen werden in »Maleficent« 2014 beantwortet. »Let us tell an old story anew and we will see how well you know it«. In »Maleficent« wird die Geschichte der dunklen Fee erzählt – der Hexenfigur aus »Sleeping Beauty«. Sie wird zur dreidimensionalen Figur, bekommt eine Geschichte, eine Genese. Und sie verbündet sich mit Aurora, der Prinzessin. Was dann passiert, erklärt, warum in Disney-Filmen Frauen als Konkurrentinnen konstruiert werden müssen anstatt als Verbündete: Aurora und Maleficent bringen den König zu Fall. Gemeinsam. Die Herrschaft der Welt der Menschen – die als Welt der Männer gezeichnet ist – wird gestürzt. Jene Welt der Männer, jene männlichen Herrscher, denen Maleficent zuvor »You are no king to me« entgegenschmetterte. Das Patriarchat wird gestürzt, wenn Frauen zusammenarbeiten. Eine neue, angsteinflößende Vision – sollte sich die Welt also vorsehen vor der Macht der Frauen?
Bleibt zu hoffen, dass auch Cinderellas Geschichte und die ihrer Stiefmutter neu erzählt werden wird und sie zueinander finden können. Sie hätten es beide verdient. Wir auch.
Dieser Artikel ist thematisch an die Produktion Cinderella des Bayerischen Staatsballett angelehnt.
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