Wer ist diese durchschnittliche Bevölkerung Deutschlands? Wer bildet den repräsentativen Querschnitt? Was also ist normal?
Unrecht hat Weingartner mit seiner Kritik bis heute nicht: So gilt Haßloch zwar als kleines Abbild Deutschlands, doch nur 8,5 Prozent der Haßlocher haben einen Migrationshintergrund. In der deutschen Gesamtbevölkerung sind es allerdings rund 26 Prozent. Die Frage, die so offensichtlich im Raum herumsteht, ist also: Wer ist diese durchschnittliche Bevölkerung Deutschlands? Wer bildet den repräsentativen Querschnitt? Was also ist normal?
Normalität ist ein Begriff, der historisch gesehen erst vor recht kurzer Zeit Einzug in unseren Wortschatz fand. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger in seinem Buch »Die Pathologie der Therapie der psychischen Krankheiten« Normalität so: »Alles, was ein Vorherrschen der Fantasie, was körperliche und psychische Weiblichkeit (…) veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußeren Lebensverhältnisse,(…), auf Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse gesorgt werden.« (1861, S. 475)
Uff. Fantasie und Weiblichkeit entfernen, Unterordnung unter gegebene Verhältnisse – wenn man diesen Maßstäben nachgeht, die die AfD jüngst noch für ihre Werbekampagne »Deutschland. Aber Normal« instrumentalisierte, meint der Begriff »Normalität« keinen einfachen Durchschnitt. Vielmehr handelt es sich bei ihm um ein idealistisches Konstrukt, das erst im Verhältnis zur Abweichung entstehen kann. Umgedreht also: Wenn es keine Abweichung gibt, kann auch keine Normalität entstehen. Der psychiatrische Kollege Richard von Krafft-Ebing schloss sich seinem Vorredner im Jahr 1885 an. Auch er konzentrierte sich beim Formen des Begriffs Normalität auf das Abweichende, von dem man sich für ein züchtiges Leben fernzuhalten habe: »Vor allem vermeide man alles, was die Sinnlichkeit wecken könnte. Viel und gut essen, Genussmittel, Stubensitzen, Stadtleben, Romanlesen, Tanzstunde, frühe Einführung in das Leben der Gesellschaft sind schädlich.« (S. 99)
Die Abweichung vermeiden: Dafür stellte der französische Mathematiker Adolphe Quetelet mit seinem idealtypischen »homme moyen«, dem »mittleren Menschen«, ein Konzept der Normalität vor. Geboren wurde dieser frühe Normcore-Prototyp gleichfalls Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Versuch heraus, eine einheitliche Rationierung an Nahrung und Kleidung schottischer Soldaten zu erstellen. Ein sicherlich praktischer Hintergrund – mit ideologischen Implikationen. Quetelets »mittlerer Mensch« war das, was bis heute als normativ gilt. Er - männlich gelesen - war kein durchschnittlicher Wert der französischen Diversität. »Er« war das Vorbild. »Er« war, wie man zu sein hatte. Zuchtvoll, stark, erfolgreich, schön. Bei der Recherche nach der Normalverteilung für militärische Ausrüstung hörte es nicht auf. Quetelet war hooked. Er untersuchte menschliche Eigenschaften, Lebensweisen, Hobbys, Aussehen. Bis hin zur Kriminalität, deren Vorkommen sich durch spezifische gesellschaftliche Eingruppierungen erklären ließe – so war der Mathematiker ein Vordenker der Rasterfahndung, durch die das Besondere gegenüber dem Normalen ausgesiebt werden soll. Da haben wir sie wieder: die Abweichung, die der Norm erst ihre Struktur, letztlich ihre Daseinsberechtigung gibt. Wenn es nach dem französischen Statistiker geht, so ist die Abwesenheit herausstechender Eigenschaften eine Form von Schönheit. So stellte der »mittlere Mensch« keinen Durchschnittstypen dar, sondern den Idealtypus des Menschen.