Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es um einen fundamentalen Perspektivwechsel. Aber wir kann man den Individuen in einer Mehrheitsgesellschaft plausibel machen, warum sie etwas tun müssen, was unangenehm und anstrengend ist?
Weil es dann allen besser geht. Weil es sich lohnt, ein Gesellschaftsmodell zu entwickeln, das für alle solidarisch ist – eine egalitäre Utopie.
Wie dringend ist es, dass sich unsere Gesellschaft systematisch mit strukturellem Rassismus beschäftigt?
Strukturelle Diskriminierungen betreffen den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, den Bildungsmarkt. Seitdem ich denken kann, ist die Dringlichkeit diesbezüglich hoch. Derzeit pushen ganz viele Stimmen dieses Thema, gerade auch weiße Stimmen. Dabei gibt es diesen Diskurs, seitdem nicht-weiße Menschen in Deutschland leben. Sie wurden nicht gehört, weil die Autor:innen nicht-weiß waren. Sogenannte Gastarbeiter:innen haben sich organisiert und für ihre Rechte gekämpft. Aber niemand hat sich dafür interessiert. Jetzt findet dieser Diskurs im Mainstream statt, in den großen Verlagen, auf den großen Bühnen, auf den Bildschirmen, in der Kunst. Das führt aber zum Gegenteil: zu Hass, Rassismus, einer aufgeheizten Debatte.
Das müssen Sie mir erklären.
Ich erlebe ständig, dass weiße Menschen die Frage nach ihren Privilegien sehr persönlich nehmen und sich angegriffen fühlen – gerade auch diejenigen, die sich selbst als nicht-rassistisch verstehen. Ich begegne sehr häufig Menschen, die in ihrer »weißen Zerbrechlichkeit«, wie ich das nenne, eigentlich gar nicht über eine egalitäre Gestaltung dieser Gesellschaft reden möchten, die sagen: »Hey, warum sollte ich jetzt auf meine Privilegien verzichten?« Meine Antwort lautet: In Deutschland ist der Kuchen groß genug. Gleichzeitig geht es um Partizipation und darum, dass homogen zusammengesetzte Institutionen nachweisbar schlechtere Arbeit leisten. Also eine Oper, ein Ministerium, eine Redaktion, ein Unternehmen, das intern nur eine bestimmte Gruppe abbildet, kann nicht ein gutes Produkt erstellen, das dann alle anspricht. Dazu gehört auch die Verteilung von Ressourcen, also die Frage: Wohin fließen etwa staatliche Förderungen? Welche Gruppen, Stimmen, Institutionen werden so sicht- und hörbar gemacht?
Wie wäre ein Perspektivwechsel möglich, der aus Ihrer Sicht die Grundlage einer nachhaltigen Veränderung hin zu mehr Gleichberechtigung von Minderheiten ist?
Es bleibt nicht aus, sich mit dem Thema zu beschäftigen, ganz individuell und nicht nur oberflächlich über die Headlines der Medien. Mir ist natürlich völlig klar: Wir leben im Kapitalismus und nicht jede:r kann gleich viel leisten. Wenn eine Person einer Lohnarbeit nachgeht und von neun bis siebzehn Uhr oder länger arbeiten geht, dann ist es schwierig, von dieser auch noch emanzipatorische Hausaufgaben zu fordern im Sinne von »bitte dreimal die Woche hinsetzen und meine Bücher lesen«. Das wäre sehr viel verlangt. Deswegen braucht es eine Übersetzungsleistung, damit verschiedenste Angebote gemacht werden können und sich die vielfältigen Menschen in unserer Gesellschaft aussuchen können, auf welche Weise sie sich mit dem Thema Rassismus beschäftigen. Da kommen Kultur und Kunst ins Spiel. Auch hierüber muss man versuchen, Menschen für das Thema zu gewinnen, zu sensibilisieren.
Gibt es Lichtblicke?
Mein Job ist es, pessimistisch zu sein. Aber was sich auf jeden Fall geändert hat oder immer klarer wird, ist, dass es immer mehr Räume gibt, wo sich Betroffene, aber auch Expert:innen in Sachen Rassismus, Antisemitismus und weiteren wichtigen Themen austauschen und zu einer Stimme finden können. Diese Räume, und das ist wichtig, öffnen sich deshalb, weil die Betroffenen dafür sorgen, dass sie sich öffnen. Es wird über diese Themen gesprochen, obwohl es dagegen Widerstand gibt. Nicht weil die Gesamtgesellschaft die Arme ausbreitet, sondern weil wir uns das erarbeitet haben. Und das ist das Positive daran, dass wir mittlerweile, auch wenn wir auf die Theaterbühnen gucken, auf die Publikationen, wenn wir in den Bildungssektor und an die Hochschulen schauen, dass diese alten, sehr starren Strukturen ganz langsam aufbrechen. Nehmen Sie mich: Ich habe einen Bestseller geschrieben. Sie führen dieses Interview mit mir. Mir persönlich geht es gut. Es geht aber darum, dass sehr, sehr viele, die noch alltäglich Diskriminierung erfahren und vor so existenziellen Bedrohungen stehen, dass ihr Leib und Leben in Gefahr ist, dass viele sich immer noch nicht äußern können und nicht repräsentiert werden. Das muss sich ändern.