Die Wetterfrösche im Fernsehen, immer auf der Suche nach neuen Katastrophen, um die Einschaltquoten zu steigern, hatten für Neuengland einen heftigen Herbststurm mit peitschendem Regen und starken Böen vorhergesagt. Brad Morris, der von zu Hause aus arbeitete, während seine Frau Jane eine Boutique in der Newbury Street in Boston leitete, blickte ab und zu aus dem Fenster auf die sich wiegenden Bäume – hartnäckige Eichen, die an ihrem rostfarbenen Laub festhielten, und Ahornbäume, die ihre Blätter in rotgoldenen Böen von sich warfen – und blieb dennoch unbeeindruckt von dem hochgespielten Wetterereignis. Es regnete jede halbe Stunde heftig und zog sich dann zusammen zu einem silbrigen Himmel gespickt mit schnell dahinschwindenden Flauschewolken. Das Schlimmste schien vorbei zu sein, als gegen Spätnachmittag sein Computer vor seinen Augen den Geist aufgab. Die Finanzzahlen, die er mühsam zusammengetragen hatte, schmolzen im Einklang dahin und wurden von dem toten, leeren Bildschirm aufgesogen wie das schillernde Wasser in einem Abfluss. Das Haus um ihn herum schien zu seufzen, als alle Lichter und Antriebsysteme, alle computergesteuerten Schalter und Anzeigen gleichzeitig abschalteten. Das Klangbild von Wind und Regen, das draußen gegen die Bäume peitschte, durchdrang die Stille. Ein Balken knarrte. Ein loser Fensterladen knallte. Das Tropfen einer verstopften Dachrinne klopfte durchdringend auf die hölzerne Abdeckung eines Kellerfensterschachts, wie ein nerviger kleiner Junge, der nach Aufmerksamkeit sucht.

Die Leitungen, die das Morris’sche Haus mit Strom, Telefon und Kabelfernsehen versorgten, verliefen auf drei Masten durch knapp einen Hektar Wald. Brad trat während einer Sturmflaute hinaus in die seltsam leuchtende Luft, um zu sehen, ob er Äste entdecken konnte, die auf die Leitungen gefallen waren. Er sah keine und auch kein Licht im nächsten Haus, das durch den Wald, dessen Blätter es im Sommer vollständig verbargen, kaum zu sehen war. Die Wipfel der höchsten Bäume wogten in einem Wind, den er kaum spürte; ein Kegel dicker, kalter Tropfen scheuchte ihn zurück ins Haus, wo sich Schattenschwaden in die Ecken verkrochen und der Ofen im Keller klackerte, während sein Metall abkühlte. Ohne Strom gab es nichts zu tun. Er öffnete den Kühlschrank und war überrascht, dass kein einladendes Licht ihn aus dem Inneren begrüßte. Der Kamin im Wohnzimmer gab den sonderbar sauren Duft von feuchter Asche ab. Der Wind pfiff aus unbekannten Spalten am Dach und entlang der Fenster. Er fühlte sich machtlos und belächelte seine Machtlosigkeit in dieser Notlage. Er dachte an die Briefe, die er zu der kleinen Poststelle im Zentrum seines Vororts bringen wollte, und an den Scheck, der zur Bank musste. Es gab also doch noch etwas zu tun: Er sammelte die Papiere zusammen, zog den Reißverschluss seines beigefarbenen, wasserfesten Mantels hoch und setzte sich ein Red-Sox-Cap auf. Der Alarm an der Haustür fiepte und blinkte sanft vor sich hin. Brad hieb auf die Neustart-Taste und das Gerät gab Ruhe.

Es war ein komisches Gefühl, als das Auto wie gewohnt startete. Nasse Blätter zementierten die Einfahrt und die Schotterstraßen der Wohnsiedlung; die Gebäude waren damals, vor zwanzig Jahren, in einem Zug auf dem Gelände eines ertraglosen Bauernhofes erbaut worden. Er fuhr vorsichtig, vor allem um den Ententeich neben der verblassten Scheune, wo in einem Schneesturm vor zehn Jahren ein Teenager mit dem Mercedes seiner Eltern durch einen Holzzaun geschlittert und bis zu den Radkappen im Schnee versunken war. Das Ortszentrum – zwei Kirchen, eine Apotheke, ein Dunkin’ Donuts, ein Pizzaladen, ein vorwiegend italienisches Restaurant, zwei Kosmetikstudios, ein Kleidungsgeschäft und ein Laden für Hochzeitskleider, ein paar Geschäfte, die in immer wieder leer stehenden Räumlichkeiten regelmäßig eröffneten und schlossen, ein Versicherungsmakler und eine Anwaltskanzlei in der Etage über dem Immobilienbüro, ein Zahnarzt, eine Bankfiliale und die Post – war ebenfalls ohne Strom, dafür belebter als sonst, die Gehwege geschwollen mit Passanten in der aufglimmend grauen Windstille.

Brad blickte überrascht zu zwei jungen Frauen, die sich umarmten und dann unterhielten, als ob sie im Begriff wären, eine längst vernachlässigte Bekanntschaft wiederzubeleben. Menschen standen da und diskutierten ihr Schicksal in kleinen Gruppen. Die für gewöhnlich hellen Schaufenster waren dunkel und ihm wurde klar, dass der Stromausfall die Menschen auf den Bürgersteig gespült hatte. Der Biomarkt, die Regale voll mit Nussvariationen und Multivitaminpräparaten und die Kühlfächer voller Tofu-Sandwiches, und der Gemüseladen, der Rivale in Sachen gesunder Ernährung auf der anderen Straßenseite, standen beide wie Höhlen abweisender Dunkelheit am Straßenrand.

Er hatte nicht daran gedacht, dass die Bank, deren Automat für sein Geld gewöhnlich so aufnahmebereit waren, per Aushang an der Tür auf die nächste Filiale verweisen würde, und dass er, obwohl er die Kassierer auf der gepolsterten Sitzbank, wo sonst Hypothekenantragsteller und Überziehungstäter schmachten, beim Plaudern beobachten konnte, genauso wenig Hand an sein Geld legen konnte wie an Fische in einem Aquarium. Die Filialleiterin, eine nervöse Frau von hoher Statur in einem strengen Anzug, patrouillierte auf dem Gehsteig. Atemlos wandte sie sich zu Brad: »Es tut mir sehr leid, Mr. Morris. Unser Geldautomat, die Alarmanlage, alles ist ausgefallen. Ich wollte eben nachsehen, ob der Baumarkt Strom hat.«

»Myra, ich glaube, wir sitzen alle im selben Boot«, beruhigte Brad sie; doch er verstand ihre Skepsis. Er selbst hatte nicht erwartet, dass zwar die Postschließfächer und die innen gelegenen Briefkästen frei zugänglich waren, die Post selber für Transaktionen aber geschlossen sein würde; alles war von einem eifrig modernisierenden Postdienst auf Computer umgestellt worden, und jetzt konnte kein einziger Brief gewogen oder eine einzige Briefmarke verkauft werden, selbst wenn es hell genug gewesen wäre, um etwas zu sehen. Der Nachmittag wurde dunkler. Da er Gefahr lief, überhaupt keine Besorgungen erledigt zu kriegen, versuchte er es an der Tür des Bioladens. Der Riegel öffnete sich und er hörte ein Kichern im Schatten. »Habt ihr geöffnet?«, rief er.

»Für dich: na sicher«, antwortete die Stimme der jungen Besitzerin, der lockigen, immer sonnengebräunten Olivia. Brad tastete sich nach hinten, wo eine einzelne gedrungene Duftkerze Behälter mit kleinen Plastiktüten beleuchtete; sie schimmerten mit tropfenförmigen Reflexionen. Er brachte eine Tüte zur Theke, von der er hoffte, sie sei mit gerösteten, aber ungesalzenen Cashewnüssen gefüllt. »Die Kasse ist leer. Spenden werden angenommen«, scherzte Olivia und holte Wechselgeld aus ihrer eigenen Geldbörse für einen Schein, von dem er, als er ihn dicht vor die Augen hielt, feststellte, dass es eine Fünf-Dollar-Note war.

Die Transaktion war ihm kokett vorgekommen, und die Atmosphäre in der Innenstadt unter den herabhängenden Girlanden aus nutzlosen Kabeln schien festlich. Autos paradierten mit lodernden Scheinwerfern vorbei. Eine bedrohliche Verdichtung der Luft veranlasste die Fußgänger, wieder Schutz zu suchen. Es herrschte ein Überfluss an Gutmütigkeit und Transparenz: Etwas Verdeckendes war entfernt worden und hatte vernachlässigte Möglichkeiten enthüllt. Brad eilte zurück in den Schutz seines Autos und lachte voll irrationaler Freude.
Frische Tropfen besprenkelten seine Windschutzscheibe, als er durch einen Durchbruch in der Steinmauer, die einst die Grenze des Hofes markiert hatte, in die Siedlung einbog. »Privatweg«, hieß es streng auf einem aufgemalten Schild.
Eine Frau in Weiß – in einem glänzenden Vinyl-Regenmantel und albern aussehenden weißen Laufschuhen – ging mitten auf der schmalen Straße. Mit flatternden Gesten deutete sie ihm, anzuhalten. Er erkannte eine noch recht neue Nachbarin, eine schmale Blondine, die vor ein paar Jahren mit ihrem Mann und zwei heranwachsenden Jungen in ein Haus gezogen war, das von den Morrises aus nicht zu sehen war. Sie trafen sich nur ein paar Mal im Jahr, auf Cocktailpartys oder bei Anhörungen des Bezirksausschusses. Sie sah aus wie ein lockender Geist. Er bremste und ließ das Autofenster herunter. »O, Brad«, sagte sie mit atemloser Erleichterung. »Du bist es. Was ist los?«, fragte sie. »Bei mir ist der Strom ausgefallen, sogar die Telefone.«

»Meine auch«, beruhigte er sie. »Alle. Irgendwo muss bei diesem Wind ein Baum auf eine Stromleitung gefallen sein. Solche Dinge passieren einfach, Lynne.« Er war froh, ihren Namen aus den Tiefen seines Gedächtnisses geangelt zu haben: Lynne Willard.

Sie trat näher an sein offenes Fenster und er konnte sehen, dass sie tatsächlich zitterte, ihre Lippen tasteten nach Halt wie die eines Kindes, das den Tränen nahe ist. Ihr Blick wanderte über den Horizont seines Autodachs, als suchte sie die Baumwipfel nach Rettung ab. Sie richtete den Blick zurück auf sein Gesicht und erklärte mit schwa­cher Stimme: »Willy ist weg. Die ganze Woche in Chicago. Ich bin ganz alleine da oben, jetzt, wo die Jungs im Internat sind. Ich wuss­te nicht, was ich tun sollte, also hab ich mir Turnschuhe angezogen und bin losgelaufen.«

Brad hatte die Jungs als durchtrieben und neugierig in Erinnerung; in Blazern warteten sie täglich am Ende der Straße auf den Schul­bus, direkt vor der eingestürzten Steinmauer. Wenn sie nun alt genug für das Internat waren, dann konnte diese Frau nicht so jung sein, wie sie wirkte. Ihr Gesicht, verschmälert durch den Einsatz eines geknoteten Kopftuchs, war weiß, bis auf die Nasenspitze, die rosa wie die eines Kaninchens in ihrem Gesicht prangte. Ihre Augenlider waren ebenfalls rosa, verrieben und vertränt. »Ich mag dein Cap« sagte sie, um die anhaltende Stille zu füllen. »Bist du Fan?«

»Nicht mehr als jeder andere.«

»Sie haben die World Series gewonnen.«


»Stimmt. Steig ein, Lynne«, sagte er mit ansteigender Beruhigungs­kraft. »Ich fahre dich nach Hause. In der Innenstadt gibt es nichts zu tun. Niemand weiß, wie lange der Stromausfall andauern wird. Nicht einmal bei der Bank und der Post wussten sie es. Das Einzige, was geöffnet hatte, war der Bioladen.«

»Ich wollte spazieren gehen«, erwiderte sie, als hätte sie diese Tat­sache noch nicht ganz klar etabliert. »Das kann ich immer noch.«

»Siehst du das nicht? Es fängt wieder an zu regnen. Der Himmel entlädt sich gleich schon.«
Blinzelnd presste sie die Lippen zusammen, um ihr Zittern zu unter­drücken – die Unterlippe verspürte den Zwang, seitwärts zu zucken– und ging vor seinen Scheinwerfern herum. Er beugte sich über den Beifahrersitz, um ihr die Tür zu öffnen, als ob sie dazu nicht selbst in der Lage wäre. Sie glitt im glitschigen weißen Vinyl über den Sitz und gestand, »Ich musste dem Piepen im Haus entkommen. Willy ist nicht einmal in Boston, wo ich ihn anrufen könnte.«
»Wahrscheinlich eure Alarmanlage«, erklärte ihr Brad. »Oder ein anderer Alarm, der nicht gern ohne Strom sein möchte. Ich komme rein, wenn ich darf, und sehe mir das Problem an.«

Sie hatte einen angenehmen Duft ins Auto gebracht, einen Geruch aus seiner Kindheit, wie Hustenbonbons oder Lakritze. »Darfst du«, sagte sie und entspannte sich in seinem ledernen Autositz. »Ich hatte solche Angst«, fuhr sie mit einem schiefen Lächeln fort, als müsste sie über sich selbst lachen, oder über eine längst vergessene Version ihrer selbst.

Er war noch nie bei den Willards gewesen. Ihre Einfahrt war von einer sorgfältiger durchdachten Bepflanzung gesäumt – knorrige, laublose Azaleen und Spindelsträucher im surreal schmetternden magentafarbenen Herbstkleid – als die der Morrises. Den Parkbereich bedeckten größere und weißere Steine als die braunen Kieselsteine, auf denen Brads Frau bestanden hatte, trotz der Tendenz dieser Kiesel, (auf die er hingewiesen hatte), sich im Winter beim Schneeräumen im Rasen zu verteilen. Doch das einfache Haus, ein zwanzig Jahre altes, gut dimensioniertes, mit Schindeln verkleidetes neokoloniales Haus mit einem unnötigen Streifen Backsteinfassade, sah seinem sehr ähnlich. In ihrer fliehenden Panik hatte Lynne vergessen, die Haustür abzuschließen. Ihr folgend, staunte Brad, wie geschmeidig und flink sie die Stufen der Steinveranda hinaufstieg und ihm die Sturmtür aufhielt, während sie die andere öffnete.

Drinnen war das Piepen deutlich und eindringlich, aber es war nicht das immer lauter werdende Blöken einer akuten Alarmstufe. Er wandte sich in die falsche Richtung; der Grundriss des Hauses war anders als bei seinem: Das Wohnzimmer lag links anstatt rechts, die Küche dahinter, nicht daneben. Die Einrichtung war jedoch fast die gleiche, modern von vor zwanzig Jahren, kastenförmig und gepolstert, aus Naturholz und einfarbiger Wolle, Couchtische aus dickem Glas auf gekreuzten Edelstahlgestellen, kombiniert mit Familienerbstücken und Perserteppichen. Diese wirkten schicker und weniger abgenutzt als die in seinem Haus, aber Brad neigte dazu, das zu verherrlichen, was andere Leute hatten.
»Hier drüben«, sagte Lynne, »neben dem Schrank« – genau dem Schrank im Flur, in den sie gerade ihren Vinylmantel hängte. Das eng anliegende graue Strickkleid, das sie darunter trug, sah für ihn aus, als käme sie gerade von einem Damen-Brunch. Mit den Zehen streifte sie ihre Turnschuhe ab, ohne sie aufzuschnüren – womöglich wollte sie sich nicht vor seinen Augen bücken müssen – und deponierte sie auf dem Schrankboden.

»Ja«, sagte er und drehte sich zum Bedienungsfeld. »Genau wie meins.« Er hob die Hand, um es anzufassen, hielt dann inne und fragte: »Darf ich?«

»Klar«, sagte sie und trat näher. Sie klang in ihrem eigenen Haus lässiger, ihre Stimme hatte ihr Zittern verloren. »Fühl dich ganz wie zu Hause!«

Er drückte den kleinen rechteckigen Knopf mit der Aufschrift »Reset«. Das Piepen hörte abrupt auf. Dicht hinter ihm klang sie beeindruckt, »Das war alles?«
»Offensichtlich«, sagte er. »So weiß die Alarmanlage, dass der Ausfall kein Einbruch war. Nicht, dass ich mich mit Technik besonders gut auskennen würde.«
Sie kicherte aus einer unbekannten Freude heraus. Er erkannte, dass der Duft aus dem Auto Alkohol enthielt, gemischt mit Lakritz. »Willy ist so ein Arsch«, sagte sie zu Brad. »Er weiß, wie alles geht, und erklärt es mir nie. Sag mal«, fuhr sie fort, »aus deiner Sicht als Mann: Muss er denn wirklich so lange in Chicago sein?«

Brad sagte vorsichtig: »Geschäfte können viel Zeit in Anspruch nehmen. Ab einem gewissen Punkt müssen sich Businessmänner – Businessfrauen auch, natürlich – gegenüberstehen und gegenseitig in die Augen schauen. Früher saß ich selbst ständig im Flieger und hatte Besprechungen und all das ganze Zeug, aber ich fand Homeoffice dann einfach effizienter. Digital kommunizieren kann man überall, da besteht eigentlich keine Notwendigkeit, das Haus zu verlassen. Aber ich weiß ja gar nicht, was Will – Mr. Willard – genau macht.« Seine nervös wortreiche Erklärung schien in dem unbekannten Haus nachzuhallen, oder vielmehr zu verblassen, in den teilweise fremden Räumlichkeiten; die Laute versickerten in den vielen kleinen Unterschieden zwischen diesem Haus und seinem eigenen. Der von ihm prophezeite Regen war zurückgekehrt. Draußen flüsterte und trommelte er vor sich hin und vertiefte nach innen den Schatten der Dunkelheit. Der Wind peitschte stoßartig Regenperlen gegen die Fenster.

»Ich auch nicht. Möchtest du etwas trinken?« fragte die Frau, selbst nervös. Sie fügte mit einem weiteren Kichern hinzu: »Nachdem du schon herkommen musstest.« Sie zeigte in Richtung der ruhig gewordenen Küche. »Kaffee kann ich leider nicht machen.«
»Was hast du getrunken?« fragte Brad sie. Ihre Augen weiteten sich, als suchten sie nach dem fehlenden Licht. »Woher weißt du, dass ich überhaupt etwas getrunken habe? Meine Freundinnen und ich haben unseren Mittagstisch mit einer Anisette besiegelt.«
»Im Auto«, antwortete er, »hast du süß gerochen«, und trat näher, als wollte er sich davon überzeugen. Ihre Küsse schmeckten nicht nach Lakritz. Dort im Wohnzimmer, wo der leere Blick des Plasmafernsehers auf sie starrte und die Tageszeitung, immer noch in ihrer Plastikhülle, ungelesen auf dem Sofa lag, küsste Lynne trocken und vorsichtig, als würde sie einen neuen Lippenstift ausprobieren. Dann gewöhnten sich ihre Lippen an die neue Passform; ihr Gesicht drückte sich in seines und ihre unruhigen Hände umklammerten seinen Rücken, hielten sich an seinem Kreuz und seinem Nacken fest, und Brad fragte sich benommen ob er nicht schon zu weit, zu schnell vorgeprescht ist. Aber nein, versicherte er sich, es war nur menschlich, ja, harmlos, diesen schützenden Kontakt zu suchen, während der Regen draußen prasselte und sich die Lichter im Haus allmählich in kaum erkennbaren Stufen dimmten. Sein Impuls war, ihr Haar an den Stellen zu glätten, an denen es vom Kopftuch zerzaust und zerdrückt worden war. Seine Hände zitterten, wie zuvor ihre Lippen gezittert hatten. Ihre Gesichter brannten, und die Zärtlichkeiten fühlten sich über der Kleidung unbeholfen an.

»Wir sollten hochgehen«, raunte sie ihm zu. »Es könnte uns jemand sehen.«

»Wer wird bei diesem Wetter schon vorbeikommen?« fragte er.

»Er bekommt viele Fedex-Sendungen geschickt«, sagte sie. Die Treppe vor ihm hinaufsteigend – sie war mit blassgrünem Teppich belegt und nicht mit kastanienbraunem wie Janes – sprach Lynne mit nicht zugeordnetem Pronomen weiter: »Er ruft jeden Tag ungefähr um diese Zeit an. Wahrscheinlich räumt er sich so seinen Abend frei.«

Brad, der seinen Atem beim Bewundern ihrer schwankenden Hüften im engen Strickkleid angehalten hatte, war an der obersten Stufe angekommen und fragte kurzatmig: »Meintest du das ernst? Dass dein Telefon auch nicht funktioniert?«
»Ja, er hat irgendein billiges System einbauen lassen, bei dem alle Kabel zusammenhängen. Ich verstehe es nicht ganz. In unserem neuen Auto kann ich nicht einmal die Radiosender einstellen. Man hat jetzt zu viele Optionen.«

»Ja«, stimmte er ihr zu.
Auch oben hatte das Haus einen anderen Grundriss als seines, das Zimmer, in das sie ihn führte, war kahler und kleiner, als es das Hauptschlafzimmer gewesen wäre. Die Fotos auf der Kommode zeigten ihre Jungs in verschiedenen Altersstufen sowie ältere Menschen in jungen Jahren, im Stil der fünfziger Jahre gekleidet – vermutlich ihre Eltern, oder die von Willy. Die Farben der verschiedenen eingerahmten Urlaubsfotos waren verblasst, die Stimmung verschoben. An der Wand hing ein Poster von einer Frau, die sich, nur in ein Tigerfell gehüllt, auf einem Lamborghini räkelte.

»Schau mal«, sagte sie. »Jetzt, wo die Blätter weg sind, kann man dein Haus sehen.« Brad brauchte ein paar Sekunden, bis er es erkennen konnte – ein blasser Schatten, der Anflug von Rauch – durch die dazwischen liegenden Bäume.

»Du hast gute Augen«, sagte er zu ihr. Es behagte ihm nicht, das Gefühl zu haben, dass diese Nachbarin viel jünger war als er, doch der Altersunterschied zeigte sich darin, wie leger und schnell sie ihre Klamotten abstreifte, als wäre es nichts Besonderes. Es war aber besonders: Sie sah fantastisch aus, alles an ihr war herrlich knochig und flaumig und blass, ihr Fett genau an den richtigen Stellen. Sie schwebte hin und her durch die Schatten im Raum und legte ihre gefalteten Kleider auf die schlichten Stühlen des Jugendzimmers. Als er sie zuvor mitten auf der Straße gesehen hatte, hatte er für einen Augenblick geglaubt, sie sei ein Geist; ihre Bewegungen hatten etwas gespenstisch Losgelöstes an sich, ihre Lippen waren zu einem Anflug von Selbstkritik gekräuselt, wie es ihm schon im Auto aufgefallen war, als sie neben ihn gerutscht war.

Sie kam zu ihm, um ihm beim Ausziehen zu helfen, etwas, das Jane nie tat. Diese unterwürfige Geste – ihre kleine Stirn, vor Anstrengung gerunzelt, während sie seine Knöpfe öffnete – erregte ihn ungemein,  und er fühlte sich nicht länger nervös oder einsam in seinem Vorpreschen; die Geräusche von Regen und Winden schwanden. Der tosende Blutstrom in ihm war lauter. In ihrer Konzentration kroch ihre Zungenspitze langsam zwischen ihren Lippen hervor. In den vorderen Haarsträhnen, die das Kopftuch nicht bedeckt hatte, funkelten winzige Tropfen, sie rochen nach Regen – ein weiterer Duft aus seiner Kindheit.

»O Gott«, brach es aus ihm heraus. »Ich liebe das.« Er hatte sich mit Mühe das »dich« verkneifen können.

»Und es nicht noch nicht vorbei«, versprach sie in einem leichten Ton, als spräche sie mit einer guten Freundin. »Es geht weiter, Brad.«

Der Strom ging an. Um ihn herum sprangen Tapeten und Stuck ins Licht. Unten in der Küche surrte der Geschirrspüler in seinen nächsten Spülgang. Am Eingang setzte die Alarmanlage ihr Piepen fort, diesmal jedoch schriller. Im Keller, in einer Tonlage tiefer als der Wind, entflammte die Heizung mit einer beständigen Kraft, stärker als der Wind, um das kühle Haus mit neuer Wärme zu füllen.

Aufgeregt laute Stimmen verkündeten, dass Lynne vor einer Stunde die Nachrichten im Fernsehen geschaut hatte, bevor sie in Panik geraten war. Ihr Gesicht, so nah an ihm, dass sich ihre Atemzüge vermengten, sprang zurück wie ein schlechter Schnitt im Film.

»O«, sagte sie, und ihre verriebenen Augen stellten sich scharf.

»Zu Hilfe«, sagte er. Er knöpfte sein Hemd zu.

»Du musst nicht gehen.« Aber auch sie, in ihrer Nacktheit, war peinlich berührt – ihre Wangen brannten rot wie von einem Ausschlag.

»Ich denke schon. Er«, sagte er, »könnte anrufen. Sie vielleicht auch, wenn man in Boston vom Stromausfall gehört hat. Alles wird jetzt gut, Lynne. Hör zu. Die Alarmanlage ist aus. Sie sagt dir: ›Alles ist gut. Alles ist wie gewohnt.‹ Sie sagt dir: ›Schmeiß diesen Mann aus meinem Haus.‹«

»Nein«, protestierte sie schwach.

»Sie sagt: ›Ich trage jetzt die Verantwortung.‹«

Brad wandte seine Augen von dem nackten Körper seiner federgleichen Blondine.
»Sie sagt«, erklärte er, »›So ist es einfach. Das ist die Realität.‹«

Wie gefällt Ihnen der Artikel?

47 Reactions

zur Übersicht

Entdecke noch mehr Artikel aus dem Dossier X