Aber selbst wenn alles transparent wäre, würde nicht jede:r die automatisierten komplexen Vorgänge verstehen können, oder?
Ja und nein. Ein einfacher Algorithmus kann absolut klar, durchschaubar und nachvollziehbar sein. Nur komplexe maschinelle Lernverfahren sind schwer zu begreifen, selbst für Entwickler:innen. Wenn Algorithmen transparent sind, könnte es tatsächlich besser sein, sie entscheiden zu lassen, da man weiß, wie Entscheidungen getroffen werden. Bei einem Bewerbungsverfahren beispielsweise wird in allen Fällen gleich vorgegangen. Gäbe es zudem keinen Schutz durch Betriebsgeheimnisse und lägen die notwendigen Fachkenntnisse vor, könnte man theoretisch mit einem Blick auf die Rechenschritte von weniger komplexen Algorithmen nachprüfen, ob Diskriminierung vorliegt, anders als bei menschlichen Entscheidenden. Diskriminierung könnte somit durch Algorithmen sogar verhindert werden.
Ist Diskriminierung durch Algorithmen ein internationales Phänomen?
Durchaus. Die Systeme werden weltweit verkauft, teilweise von großen Unternehmen und Playern in der Entwicklung von KI wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft. Sie bieten ihre Systeme häufig ebenfalls online an. Man kann hier Datensätze hochspielen, auswerten und sich Ergebnisse zurückspielen lassen.
Und das ist dann nicht unbedingt länderspezifisch.
Nein, länderspezifisch ist die rechtliche Einrahmung, die Angebote sind fast schon global ähnlich.
Einige der von Ihnen angesprochenen Unternehmen widmen sich seit einigen Jahren intensiv dem Thema »Equity versus Equality«. Denken Sie, diese Debatte kann die Algorithmen gerechter machen?
In der Informatik ist seit einiger Zeit der Begriff »Fairness« sehr populär, der in den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften eigentlich kaum auftaucht, wo man eher über Gerechtigkeit oder Gleichheit spricht. Die Vorstellungen von Fairness, die in der Informatik vorherrschen, werden in Kennziffern ausgedrückt, die unter anderem aus Fehlerraten gebildet werden, sogenannten Fairnessmaßen. Es prallen hier zwei Welten aufeinander: 3000 Jahre Gerechtigkeitsdiskussion und die recht jungen Fairnessvorstellungen der Informatik. Es wäre wichtig, in Augenschein zu nehmen, welche Gerechtigkeitsvorstellungen unseren Verfassungen und auch europäischen Richtlinien zugrunde liegen und welche Fairnesskriterien, -metriken oder
-definitionen in der KI zur Anwendung kommen, ob diese grundsätzlich miteinander vereinbar sind.
Kann die Informatik Visionen für menschliches Miteinander entwickeln?
Das Problem sollte auf gesellschaftlicher Ebene angegangen werden und nicht einer einzelnen Berufsgruppe vorbehalten sein. Denn innerhalb einer Gesellschaft gelten unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen als tragfähig, abhängig vom Kontext. In manchen Bereichen wird Equity, Gerechtigkeit, erst durch eine gezielte Berücksichtigung der individuellen Situation einer Person erreicht, man spricht hier von adressenorientierter Gerechtigkeit. Im Bereich der Arbeitsplatzvergabe etwa herrscht gesellschaftlicher Konsens darüber, dass nach Parametern wie Leistung, Bildungsgrad, Eignung und Berufserfahrung Arbeitsplätze vergeben werden. In anderen Bereichen wird Gerechtigkeit nach Bedürftigkeit bestimmt. In wieder anderen Kontexten geht es um Gleichheit vor dem Gesetz oder um gleiche Beteiligungsmöglichkeiten. Es wäre also besser zu klären, in welchen Kontexten sich die Gesellschaft auf welche Gerechtigkeitskonzeptionen geeinigt hat und wie diese in Vorgaben für die Informatik umgesetzt werden können.
An welchen Punkten sollte man es nicht Algorithmen überlassen, Entscheidungen zu treffen und möglicherweise Menschen zu diskriminieren?
Das Antidiskriminierungsrecht ist motiviert aus den Gleichheitssätzen des Artikels 3 des Grundgesetzes und aus Artikel 2, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, wonach dem einzelnen Menschen Handlungsspielräume nicht ungerechtfertigt verengt oder verunmöglicht werden dürfen, zum Beispiel durch falsche Zuschreibungen oder Stereotypenbildung. Diese Erklärungsmöglichkeit fällt bei automatisierten Prozessen oft weg, da nach vorher festgelegten Kriterien über Personen entschieden wird. Es müsste offen in der Gesellschaft diskutiert und entschieden werden, bei welchen Entscheidungen über Menschen, die die Persönlichkeitsentfaltung stark betreffen, der Einzelne noch ein Recht haben muss, sich zu erklären, ein Recht auf Selbstdarstellung zu haben und auf eine personenbezogene Inaugenscheinnahme.