I Ian C Colin
C Vor ein paar Jahren wurde ich einem kleinen Kind geschenkt – von der Zahnfee. Nette Geschichte, denkst du wohl, aber warte ... Da bin ich also: an der Upper West Side. Ein Kind, es ist etwa sieben, hat einen seitlichen Schneidezahn verloren. Das Kind geht schlafen, wacht morgens auf und ich, ich warte nur auf diesen Moment. Dieses Kind wird durchdrehen. Es bekommt gleich einen Zehner für seinen Zahn! Das Kind öffnet die Schachtel, faltet mich auseinander, schaut mich an und sagt: »Ist das alles?« – Hallo, mein Name ist Colin und ich bin ein Zehn-Dollar-Schein.
C Ich würde gerne glauben, dass ich alles kann, was ein Zwanziger kann, oder alles, was ein Hunderter kann. Aber nein, ich kann nur die Hälfte von dem, was ein Zwanziger kann, und ein Zehntel von dem, was ein Hunderter kann.
I Genau.
C Mathematisch gesehen, natürlich.
I Nun, Colin, ich nehme an, du bist viel umgezogen. Wo hältst du dich aktuell auf?
C Dieser Tage bin ich viel in einer Brieftasche.
I Okay.
C Ich meine, es sind viele Brieftaschen, viele Portemonnaies, Geldautomaten. Da findet man mich in der Regel.
I Dein Zuhause ist also eine Brieftasche?
C Ja.
I Wohnst du da allein?
C Nein, ein Geldschein kommt selten allein. Normalerweise sind da noch andere Scheine. In meiner aktuellen Brieftasche sind dann auch noch Quittungen … richtig viele Quittungen. Das mag ich gar nicht, versteht man, oder? Ich meine, der Typ soll sich mal zusammenreißen. Geht ja gar nicht. Stell dir vor, du wärst zwischen acht oder vierzig Bons eingeklemmt!
I Das sind wirklich viele Bons.
C Das sind viele. Der Kerl ist ein Ferkel. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
I Mich würde interessieren, von wie vielen Menschen warst du schon im Besitz? Wäre das richtig formuliert?
C Das ist kein schlechter Begriff – Besitz. Manchmal ist es eher eine Übergabe. Kann man das dann auch als Besitz definieren? Insgesamt waren es hundertachtzig, ungefähr.
I Das sind viele.
C Ach ja? Ich weiß nicht. Für mich fühlt es sich normal an. Wenn ich so gerade darüber nachdenke … Eine Brieftasche zum Beispiel, das war einfach nur peinlich da. Ein demütigender Ort war das. Viel zu lange, Wochen, war ich dort gegen ein Kondom gedrückt. Das ist einfach kein gutes Gefühl, an einem Gummi herumgerieben zu werden. Ich dachte mir: Junge! Entweder du gibst mich jetzt langsam mal mit vollen Händen aus oder es muss sich hier etwas anderes ändern. Ekelig war das.
I Du sagtest, du warst wochenlang dort.
C Ja. Keine Ahnung, was er da gemacht hat, was für ein Leben er geführt hat. Nichts schien für ihn zu funktionieren.
I Wer hat die Brieftasche zuerst verlassen?
C Nun, ironischerweise bin ich zuerst gegangen. Ich fand das in Ordnung. Ich dachte mir: egal. Lustig war, dass er mit mir mehr Kondome gekauft hat! Ich dachte mir nur: »Mach mal langsam, Casanova.«
I Ich möchte ein bisschen über dein Aussehen reden, wenn das okay ist.
C Ja, das ist okay.
I Auf dir ist ziemlich viel los: Gründervater Hamilton, die Zahl zehn, die Fackel der Freiheit. Das ist jetzt vielleicht eine etwas seltsame Frage, aber was ist für dich dein liebster Teil?
C Was ich am liebsten mag und gleichzeitig am wenigsten, sind all die Worte. Denn Worte, wie du weißt, bleiben für die Ewigkeit. Sie sind wie Tattoos: Man muss damit leben.
I Stimmt.
C »We the People« liebe ich zum Beispiel. »In God We Trust« weniger. Früher war ich ziemlich religiös. Mit der Zeit bin ich, na ja, mehr ein Atheist geworden, ein Atheist mit einem »In God We Trust«-Tattoo. Es ist verwirrend.
I Das glaube ich.
C Ich gehöre nicht wirklich in die … patriotische Ecke. Ich liebe das Land, klar, aber ein bisschen übertrieben ist das schon. Flagge, Siegel, Peter … all dieses Zeug ist einfach nicht mein Ding.
I Wer ist Peter?
C Peter, Peter der Adler, kennst du bestimmt. Der Adler auf den Geldscheinen, das ist Peter.
I Willst du mir sagen, dass der Adler, den ich auf allen Dollar-Scheinen sehe, einen Namen hat?
C Ja, Peter.
I Der Adler heißt also Peter.
C Er heißt Peter, ja. Einst lebte er in der Münzstätte in Philadelphia und saß auf den Münzpressen. Er saß einfach da oben und beobachtete alles. Und dann ging eines Tages leider eine der Druckmaschinen an, während Peter zur falschen Zeit am falschen Ort war. Das war das Ende von Peter.
I Ist doch ein seltsamer Name für einen Adler.
C Hast du einen besseren?
I Na ja, ich habe mir einfach etwas eher Majestätisches vorgestellt.
C Bruce?
I Bruce – wohl kaum.
C Sandy?
I Nein.
C Herr Flattermann? Sir John Eaglegud?
I Schon eher.
C Don Henley, von den Eagles?
I Macht Sinn.
C Schnabel Ferrara? Ei Weiwei? Jürgen Vogel? Kralle Blomquist? Meister Feder? … Mitch McKrähnell?
I Der wäre wohl eher eine Krähe.
C Greif Dracula?
I Peter passt schon.
C Gut.
I Colin, was ist deine erste Erinnerung?
C Ich habe nur noch einen kleinen Ausschnitt vor Augen. Es ist laut, superlaut, und ich sehe viele alte weiße Männer, die an mir vorbeiziehen.
I Okay.
C Das war kein gutes Gefühl. Wo war ich da gelandet, im Altersheim? Ich kann es immer noch nicht einordnen.
I Wie viel weißt du über den weißen Mann auf dir?
C Alexander Hamilton?
I Ja.
C Tja, also, die Show habe ich gesehen. Besser gesagt, ich war dabei. Wirklich gesehen habe ich nichts.
I Du meinst das Musical?
C Ja. Die Originalbesetzung.
I Wie ist das passiert?
C Also, die Person, die mich in Besitz genommen hatte, kriegte Karten und wir waren da, also, ich war dabei. Ich war für Lin-
Manuel Miranda da, für die ganze Show.
I Und wie war es?
C Keine Ahnung. Es lag wahrscheinlich an meinem Platz. Wenn man in einer Brieftasche ist, kann man überall sein und doch nicht wirklich da. Ich würde gern sagen können, »Es war mega!«, aber sobald sie anfingen zu singen, schaltete ich einfach ab. Ich dachte: »O, sie singen.« Und dann sangen sie und sangen und sangen immer noch. Ich bin einfach kein Musicalfan, schätze ich.
I Gibt es ein Musical, das du magst?
C Doch, ich war in »Avenue Q« und das war einfach der Brüller.
I Also, Colin, eine andere Sache: Du bist natürlich US-Währung. Hast du auch schon Währungen aus anderen Weltteilen kennengelernt?
C Ich habe tatsächlich einmal einen kanadischen Dollar gesehen. Er war eine Weile mit mir gemeinsam in meiner Brieftasche.
I Okay.
C Das ist eine etwas peinliche Geschichte für mich. Es war so: Ich war aufgeregt, weil ich immer nur mit US-amerikanischer Währung zu tun hatte und es fühlte sich so exotisch an, einen Kanadier bei mir zu haben. Wir waren beide zehn Dollar und ich startete das Gespräch. Ich bin aber wohl ein bisschen zu tief in die globale Wirtschaft eingestiegen und wollte ihm erklären, dass er, obwohl er zehn Dollar wert ist, nicht wirklich so viel wert ist wie ich. Wenn ich das heute so laut sage, hört sich das wirklich ein bisschen creepy an.
I Das hat er bestimmt nicht gern gehört.
C Nein, nett ist das nicht. Und ich versuchte zurückzurudern, indem ich sagte: »Aber die Dinge könnten sich ändern! Importe, Exporte … Vielleicht bist du eines Tages mehr wert als ich!« Aber er hatte schon auf Durchzug geschaltet.
I Hatte er einen bestimmten Geruch?
C Darüber möchte ich nicht sprechen.
I Colin, mich hat dein Tauschwert interessiert und ich habe mich nach verschiedenen Dingen umgesehen, die man für zehn Dollar bekommen kann. Jetzt interessiert mich deine Reaktion darauf. Lass sie uns sie durchgehen.
C Ja, gern.
I Es gibt einen Imbiss, der zwölf Tacos für zehn Dollar anbietet.
C Mit E. coli dazu?
I Ein Poster von Vincent van Goghs Gemälde »Sternennacht«.
C Gerahmt?
I Nein.
C Mau.
I Für zehn Dollar kann man im Heimtierbedarf eine Wüstenrennmaus bekommen, Größe, Geschlecht und Farbe variieren je nach Geschäft, Käfig ist nicht im Lieferumfang enthalten.
C Das klingt doch nett ... Ich mag Rennmäuse.
I Ich finde es ja schon seltsam, dass man euch füreinander eintauschen kann, aber austauschbar seid ihr nicht. Stell dir mal vor, du tauschst mit der Rennmaus für einen Tag das Leben. Dann käme die Rennmaus in eine Brieftasche und du wohl zu anderen Rennmäusen in einen Käfig.
C Boah, Mindfuck. Ich glaube nicht, dass der im Geldbeutel so gut zurechtkommen würde.
I Nein?
C Nein, dafür braucht man eine gewisse mentale Stärke. Und dann wäre noch die Frage, ob man eine Wüstenrennmaus falten kann?
I Nein. Nein!
C Natürlich nicht, daran würde sie sterben.
I Es ist auch komisch, dass ich als Mensch neben anderen Menschen herumlaufe und glaube, dass wir alle den gleichen Wert haben. Egal, woher wir kommen oder was aus uns geworden ist, wir sind alle in gewisser Weise gleich viel wert. Bei Scheinen ist das per definitionem nicht der Fall.
C Nein, du hast recht. Wir sind alle mit unserem Wert gebrandmarkt.
I Ich wollte dann auch wissen, wie viel ich wert bin, wenn man mich in Einzelteilen verkaufen würde. Und weißt du was? Der menschliche Körper ist summa summarum etwa hundertsechzig Dollar wert.
C O, nicht schlecht. Wie fühlt sich das für dich an?
I Ich wäre gern mehr wert.
C Hattest du eine Vorstellung, wie viel man für dich verlangen könnte?
I Ich hatte tausend Dollar geschätzt.
C Wow, das ist viel. Vielleicht wenn man berühmt ist.
I Nein, alle Menschen, ob berühmt oder nicht, wenn man sie runterreduziert, sind so viel wert … außer Babys, die sind weniger wert, wenn man nur von den Einzelteilen ausgeht, weil sie einfach weniger davon haben.
C Was ist mit Pharrell Williams?
I Wahrscheinlich auch hundertsechzig Dollar.
C Okay.
I Colin, der Junge, den du am Anfang erwähnt hast, das Zahnfeekind?
C Ja?
I Wie hat er dich ausgegeben?
C Gar nicht.
I Wie meinst du das?
C Er ging zu dem Fenster in seinem riesigen, riesigen Zimmer und warf mich auf die Straße. Er wollte mich lieber aus dem Fenster werfen als auszugeben, so eine Enttäuschung war ich für ihn.
I Und du lagst einfach da?
C Ja, ich lag da. Es waren schreckliche, schreckliche, ich würde sagen, fünf bis sechs Minuten, einfach nur daliegend. Ich bin zwar Übergangszeiten gewohnt, an der Kasse, am Geldautomaten, ins Portemonnaie, in die Handtasche, in die Hosentasche … Aber das war anders. Normalerweise ist so ein Übergang schnell. Aber in dem Fall wurde ich weggeworfen, rausgeworfen, und wusste nicht mal, was als Nächstes kommen würde, ob überhaupt irgendwas kommen würde …
I Und, was kam als Nächstes?
C Jemand hob mich auf und ich fühlte mich sofort besser. Ich entfaltete mich, was eine Weile dauerte, weil der Junge mir wirklich zugesetzt hatte. Und dann wurde ich für ein paar Chips und ein Sandwich eingetauscht. Ein echter Aufstieg war das, von Bordsteinkante zu Sandwich und Chips, kein schlechtes Ergebnis.
I Wenn du ein größerer Schein gewesen wärst …
C Ja.
I … wärst du vielleicht viel länger mit diesem Kind zusammengeblieben.
C Das ist mein großer Vorteil gegenüber einem Hundert-Dollar-Schein, oder sogar gegenüber einem Zwanzig-Dollar-Schein. Die Leute wollen nicht unbedingt an mir festhalten.
I Ja, du hast nichts zu verlieren.
C Ja. Ich bin nichts zu verlieren.