Unter Bären
Minty erwachte im Schoß seiner Mutter Mercedes mit einem langen Gähnen. Er schloss das Maul und gähnte gleich noch mal. Was die Menschen hinter der Mauer umgehend in Aufregung versetzte. Bewegung kam in das vielköpfige Rudel: Zwei Menschenmütter hoben ihre Jungen hoch, setzen sie auf den Mauersims und hielten sie hinterrücks umschlungen, damit sie nicht in den Wassergraben fallen konnten, der das Gehege umgab. Ein paar Halbwüchsige balgten um den besten Platz, ein alter Mensch ergriff seinen Fotoapparat und machte zweimal Klick. Das Fell auf seinem Kopf war so weiß wie das einer Eisbärin, die monatelang keine Tatze aufs Land gesetzt hatte.
Ach ja, Tatzen, dachte Mercedes, Tatzen waren schon eine ziemlich plumpe Angelegenheit. Das fiel ihr gerade besonders auf, jetzt, da sie erstmals Mutter geworden war und ihrem kleinen Minty etwas Gutes tun wollte. Schon länger hatte sie die Menschen hinter der Mauer um ihre filigranen Finger beneidet, mit denen sie ihre Bälger kraulen konnten. Aber jetzt bemerkte sie, dass sie dem alten Menschen auch noch seine schneeweißen Haare missgönnte. Sie schaute an sich herunter und betrachtete ihr Bauchfell sowie das von Minty. Was für eine Scheiße. Es war einfach schmutzig in dem Betongehege des Zoos von Edinburgh. Da konnten die Wärter noch so oft kehren, es blieb erdig hier, staubig, schlammig, schlampig.
Barney, dem Vater des kleinen Minty, machte der Staub nichts aus, was daran lag, dass er in einem Zoo nordwestlich von London geboren war und nie die reinweiße Eislandschaft der Arktis gesehen hatte. Sie dagegen sehnte sich nach der kanadischen Wildnis zurück.
Mintys Geburtsdatum, den 18. November 1988, hatte sie sich gemerkt, auch wenn ihr so ein Datum nicht wirklich etwas sagte oder nützte. Sie brauchte keine Ziffern, um zu spüren, wie kurz die Tage um Mintys Geburt herum wurden und dass es eigentlich langsam an der Zeit gewesen wäre, sich eine Winterhöhle in den Schnee zu graben, wie sie es aus ihrer Heimat kannte. Im Beton ging das natürlich nicht.
Mama, guck mal, die Menschen, wie sie schauen!
Ich sehe sie, sagte Mercedes nur.
Sie kannte die Blicke, war an sie gewöhnt, hielt sie aus und hielt still.
Minty hingegen genoss die Aufmerksamkeit. Er spürte, wie jede seiner Regungen zu Reaktionen bei den Menschen führte, und räkelte sich genüsslich im Bauchfell seiner Mutter.
Sie kommen nur wegen mir, sagte er, nur wegen mir!
Jetzt werde mir bloß nicht übermütig, entgegnete Mercedes.
Du magst ein Star sein, kleiner Minty, aber du bist nur einer, weil du so jung bist. Die Menschen lieben Tierbabys, sie können gar nicht anders, das ist unser aller Natur, Babys lieb zu haben. Aber wenn du älter bist, mein Sohn, sieht das anders aus. Dann haben sie Angst vor dir.
Minty erschrak, nicht vor den Worten seiner Mutter, sondern vor einem anderen Tier. Denn jetzt sah er sein hellbraunes Ebenbild in den Armen eines Menschenkindes sitzen.
Das ist ein Teddybär, sagte Mercedes. Und auch der hat nichts mit dir zu tun, falls du das jetzt denkst.
Minty konnte seine Augen nicht lassen von dem fremden kleinen Bären, mit dem irgendetwas nicht stimmte.
Genauso hatte Wojtek ausgesehen, als er in die Hände der Menschen geriet, dachte Mercedes, genauso klein und knuffig wie dieser Teddybär.
Mein lieber Minty, sagte Mercedes, ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, eine Geschichte von einem Bären, der vor vielen Wintern hier im Zoo von Edinburgh gelebt hat und der wirklich berühmt war. So berühmt, wie ein Bär nur sein kann.
Minty schloss die Augen, denn mit geschlossenen Augen konnte man Geschichten viel besser hören.
Mein Name ist Wojtek.
Minty erschrak wieder, denn so hatte er seine Mutter noch nie reden hören. Ihre Stimme klang auf einmal noch tiefer als die seines Vaters Barney, so richtig rauchig und brummbärig.
Shhhh, machte Mercedes, als sie Mintys Aufregung bemerkte, shhhh! Dann begann sie erneut zu erzählen, mit ihrer tiefen, tiefen Stimme.
Mein Name ist Wojtek und ich bin ein Żołdak. Ein Żołdak – ein Militärangehöriger der 22. Artillerie-Transportkompanie im II. Korpus Polski unter dem Kommando von Generalmajor Władysław Anders, jawoll. Ich bin das Wappentier meiner Einheit, Held meiner Truppe, und stand am Ende des Kriegs im Rang eines Korporals.
Ich weiß nicht, wie ich an die Menschen kam, ich kann mich nicht erinnern. Meine Kompanie hat mir später erzählt von dem persischen Buben, der mich gefunden hat und der mich verkauft hat an sie, für ein paar Konservendosen mit Fleisch. Ich war allein, meine Mutter war weg, Wilderer, was für ein Szajs.
Am Anfang haben sie mich versteckt. Haben mich gefüttert mit Essen aus der Feldküche. Und ich konnte fressen, jeden Tag fraß ich mehr. Ich weiß noch, an einem Tag, da haben die Soldaten Werfen geübt, haben Äpfel genommen als Handgranaten und auf mich geworfen. Haha, hundertfuffzig Äpfel hab ich gefressen, dann erst war ich satt. Da ging’s mir gut!
Und Fuhrman war ich, hab im Wagon gesessen jeden Tag. Schön hinter dem Lenker, denn für mich war immer ein Auto frei in der Kompanie. Und ein Bett war auch immer frei, ich durfte schlafen im Zelt von meinem Piotr, dem guten Piotr. Nicht immer, aber schon manchmal.
Żołdak war ich und als Żołd hab ich bekommen Futter und Bier und Zigaretten. Meine Kompanie hat sie geraucht und ich hab es gefressen. Dann ging’s uns gut, das sag ich dir.
Wir waren eine seltsame Truppe. Alle waren so jung. Und Frauen gab es auch im Korps. Viele hatten keine Eltern mehr, so wie ich. Kamen aus Sibirien, aus dem Arbeitslager. Stalin-Mensch hatte sie erst gefangen und ins Lager gesteckt und dann gegen Hitler-Mensch ausgepackt und in den Krieg geschickt. Alle hatten keine Heimat mehr. Polen war weg. Persien war nur Ausbildungslager. Ist komplex.
Von Persien wollten wir fahren nach Ägypten, mit dem Schiff. Hatte ich ein Rajzefiber, haha! Aber die Hafenbehörde hat Tiere verboten auf dem Schiff, was für ein Szajs, und deswegen überlegte man hin und her und hin und her und dann wurde ich offiziell Żołdak, mit Dienstrang und Żołdbuch und allem Drum und Dran. Und dann durfte ich aufs Schiff. War alles wieder gut.
In Ägypten hab ich, glaubst du mir nicht, einen Spion verhaftet. Den hatte ich gehört. Im Waschraum hat er sich versteckt. Ich habe gebrüllt, das kann ich gut, bis meine Kompanie kam. Dann haben sie dem Spion gesagt, dass ihn der Bär fressen wird. Ich hab noch lauter gebrüllt und dann hat er alles gestanden, jawoll.
Hätt ich ja nie gemacht, den Spion gefressen, weil ich bin ein Lieber. Ein ganz Lieber. Gekämpft mit den Menschen hab ich nur zum Spaß. Nur gespielt. Haben sich trotzdem nicht viele von den Soldaten getraut, gegen mich zu kämpfen. Ich bringe 220 Kilo mit und viel Kraft. War Mutprobe, wer sich traut.
Von Ägypten ging’s weiter nach Italien: wieder Schiff, diesmal keine Problemy. Und dann zur Schlacht am Monte Cassino. Berühmte Schlacht! Zentrum von der Verteidigungslinie der Nazi-Menschen südlich von Rom. Unser Korps mit dem Auftrag, die Klosterruine auf dem Berg im Frontalangriff zu erstürmen. Haben wir gemacht. O das war ein Fajerwerk, schlimm. Viele Tote, viele Tote. Das Kloster auf dem Berg, groß wie eine Stadt, war danach weg. Alle Steine nur noch Puder.
Am Monte Cassino habe ich, wie sagt man? Transportuję Amunicję? Geschleppt habe ich Granaty und Amunicję, ganz vorn an die Front. Der Haken dabei war der Boden, das Gelände voller Mulden, rauf und runter ging’s und wieder hoch. Habe ich getragen Kiste um Kiste.
Das war mein Majstersztyk, danach haben sie mich befördert zum Kapral. Ja, ich war Unteroffizier. Glaubst du nicht? Dann halt nicht. Aber ich habe Granatkisten getragen, das man hat meine Kompanie auch erst geglaubt, als britische Soldaten es mit eigenen Augen gesehen haben. Legende? Nix da. Geschichte ist gut.
Und nach dem Sieg ging es nach Schottland. Ist übel für die Soldaten aus Polen, haben Leben gegeben und Krieg gewonnen, aber Polen in Freiheit verloren. Was haben wir gesungen: Noch ist Polen nicht verloren! Marsch, marsch, Dąbrowski, von der italienischen Erde nach Polen. Unter deiner Führung vereinen wir uns mit der Nation. Nix da, war alles nur ein Traum.
Und jetzt sitze ich hier im Zoo von Schottland. Ich kenne ja nichts anderes als den Krieg. Und wenn ich das hier jetzt vergleiche mit dem Krieg auf dem Feld, dann ist der Frieden hinter dem Wassergraben und der Mauer langweilig. Freiheit ist für mich futsch.
Hier im Zoo haben sie erzählt, wie im Krieg eine Giraffe durch eine Bombe starb. Danach haben sie Wölfe und Schlangen getötet, weil sie Angst hatten vor einem Ausbruch. Eine Granate am falschen Ort. Kann passieren, das weiß ich gut. Szajs Krieg, szajs Gwalt, nix als Gwalt.
Dass ich kein Mensch bin, wurde mir erst klar, als ich im Zoo saß, hinter Mauer und Graben. Auf einmal war ich gefährlich, ein Raubtier, 220 Kilo schwer und zwei Meter hoch. Natürlich hätte ich jederzeit ... Aber hab ich das je getan? Hab ich nicht immer mitgespielt? Durften meine Kameraden nicht auf mir reiten? Haben wir nicht freundschaftlich miteinander gerungen? Haben wir nicht Fußball gespielt? Woher jetzt die Angst vor mir?
Manchmal höre ich vor meinem Gehege die polnische Sprache, dann stelle ich mich auf die Hinterbeine und winkte dem Kompan zu. Towarzysz! Towarzysz! Wojtek! Hier ist Wojtek!
Froher Krieger, das ist die Bedeutung meines Namens. Oder auch: Trost im Krieg. Ja, das war ich, ein Trost.
Ich heiße Wojtek und ich bin ein Żołdak. Ein Żołdak der 22. Artillerie-Transportkompanie im II. Korpus Polski unter dem Kommando von Generalmajor Władysław Anders, jawoll.
Mercedes atmete tief ein und strecke sich vorsichtig. Auch sie hatte ihre Augen geschlossen, um sich besser aufs Erzählen konzentrieren zu können. Sie schnupperte an Minty, um zu prüfen, ob er eingeschlafen war.
War er nicht.
Mama, das mit der Munition habe ich nicht verstanden. Wohin hat Wojtek die Kisten geschleppt?
Mein Sohn, du musst jetzt noch nicht alles verstehen. Und du brauchst dir auch nicht alles zu merken. Ich werde dir diese Geschichte noch oft erzählen. So oft, bis du sie in allen Einzelheiten auswendig kannst und nie wieder vergessen wirst. Denn ich möchte, dass du die Geschichte von Wojtek, dem Kriegshelden, dem berühmtesten Bären alles Zeiten, einmal deinen Kindern erzählst. Und nicht nur einmal, sondern mindestens genauso oft, wie ich es für dich tun werde.
Mama, Mama, eine Frage noch!
Ach herrje, du frisst mir noch ein Loch in den Pelz mit deinen ganzen Fragen.
Ach, Mama!
Also gut, noch eine einzige Frage.
Warum führen die Menschen Kriege?
Das ist einfach zu beantworten, mein kleiner Minty. Weil es zu viele sind, deshalb. Und jetzt schlafe endlich.
Und Minty schloss seine Augen und verlangsamte seine Atemzüge. Aber schlafen konnte er an diesem Abend noch sehr lange nicht.