Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom beschreibt in seinem Essay »Nie gebaute Niederlande«, wie in den Niederlanden nicht nur die vorhandenen Bauten, sondern auch die nie gebauten Projekte ein wichtiger Teil der Kultur geworden sind. Für Nooteboom ist der gezeichnete Entwurf eines nicht gebauten Gebäudes im Unterschied zur Notiz eines ungeschriebenen Buchprojekts viel lebendiger und sichtbarer, da sich die Materialität, die Volumetrie und sogar oft die gesellschaftliche Idee der gezeichneten Architektur gut vorstellen lassen. Somit könnte die Wahrnehmung einer Straße oder eines Platzes nicht nur das sein, was man mit bloßem Auge sieht, sondern auch zusätzlich Bilder anderer ehemaliger und gezeichneter Gebäude enthalten. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat das mit seinem Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« erklärt. Für Halbwachs waren Erinnerungen ortsgebundene und soziale Konstruktion, in dem Sinne, dass eine eigene individuelle Erinnerung noch von Erinnerungen anderer sozialer Gruppen ergänzt werden kann zu einem kollektiven und sozialen Gedächtnis. So gesehen könnte man sich, laut Halbwachs, am 9. November an den Fall der Mauer, an dessen politische Bedeutung und sogar an den Bau der Mauer 1961 erinnern, ohne jemals dort gewesen zu sein. Fehlt die Berliner Mauer heute an den Stellen, an der sie tatsächlich physisch und symbolisch stand, könnte man einen Phantomschmerz der Erinnerung spüren.

Das Gleiche gilt für ein geplantes Wahrzeichen, das zwar einmal Teil einer gesellschaftlichen Debatte war, aber kein Teil eines kollektiven Gedächtnisses wurde, weil nur wenige Zeichnungen davon publiziert wurden und es deshalb vor allem einer kleinen Gruppe bekannt war: Das Richard Wagner Festspielhaus in München, das vom Architekten Gottfried Semper zwischen 1864 und 1867 geplant wurde. Die Idee dazu hatte König Ludwig II., um Richard Wagner ein Monument zu bauen und ihn so fester an München zu binden. Trotz des tragischen Scheiterns des Projekts hatte es eine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte und hinterließ imaginäre Spuren in München.

Der Architekt Gottfried Semper und der Komponist Richard Wagner kannten sich schon sehr lange und mussten beide 1849 aus Dresden fliehen wegen ihrer Beteiligung am Dresdner Maiaufstand. Wagners Verbannung wurde ab 1860 gelockert, und er konnte nun wieder nach Deutschland reisen. Zum Verhängnis wurde ihm allerdings sein sehr teurer und extravaganter Lebensstil. Er war wegen hoher Schulden bei diversen Gönnern in eine sehr bedrohliche finanzielle Lage geraten. Ungefähr zur gleichen Zeit, etwa 1961, sah Ludwig II. als 15-Jähriger den Lohengrin und wurde ein begeisterter Wagnerianer. Nach dem Tod seines Vaters König Max II. wurde er König von Bayern und berief im April 1864 Richard Wagner nach München. Er bot ihm ein hohes Salär, um seine Schulden zu begleichen, einen Wohnsitz in einem Stadtpalais an der Brienner Strasse, die Aufführung seiner Werke und die Aussicht auf ein eigenes Theatergebäude.

Ludwig II. hatte Wagners Wunsch nach einer eigenen Festspielstätte in dessen Vorwort zum »Der Ring des Nibelungen« sehr monumental interpretiert, auch wenn Wagner selbst dafür nur einen Zweckbau aus Holz mit einem Auditorium in Form eines Amphitheaters vorgesehen hatte. Wagner schlug seinen Freund Gottfried Semper, der inzwischen in Zürich lebte, als Architekten für diesen Auftrag vor und schrieb ihm von der Idee des Königs. In ähnlicher städtebaulicher Situation wie das Maximilianeum am rechten Hochufer der Isar, mit eigener Prachtstraße und Brücke, stellte sich Wagner sein Festspielhaus vor.

Der Architekt Semper war begeistert, versprach bald erste Skizzen zu erstellen und bald nach München zu reisen, um Wagner und den König zu treffen. Wenige Wochen später kam Semper nach München mit ersten Skizzen und traf den König. König Ludwig II. war fasziniert von der Idee, wie sein Großvater Ludwig I. und sein Vater Max II eine eigene Prachtstraße und Brücke zu gründen. Er erteilte Semper mündlich den Auftrag für das Theater. Richard Wagner wünschte sich nun eine deutsche Musikschule, parallel zum Theaterbau. Im Grunde war es Wagner wichtiger, gut ausgebildete Sänger:innen zu haben, als ein eigenes Festspielhaus. Vom bayerischen Hof kam die Bitte an Semper, auch eine provisorische Bühne zum Erproben von Musteraufführungen im Münchner Glaspalast zu planen. Die Vorteile eines Provisoriums innerhalb eines wetterfesten Gebäudes waren deutlich günstigere Baukosten und eine schnellere Realisierbarkeit. Semper konnte dafür auf einen seiner Entwürfe für ein Provisorium im Crystal Palace in Sydenham zurückgreifen. Nach dem Vorbild eben dieses Crystal Palace hatte der Architekt August von Voigt 1854 den Glaspalast im Alten Botanischen Garten in München für König Max II. konstruiert.

Wenige Monate später verschickte Semper seine Pläne für das Provisorium nach München und bat überdies um einen Vermessungsplan des möglichen Grundstücks für das Festspielhaus, um daran weiterarbeiten zu können. Semper bekam aber weder topographische Pläne, um am Entwurf weiter arbeiten zu können, noch einen schriftlichen Vertrag geschickt, da das Kabinett und die Minister des Königs versuchten, das Projekt zu verhindern, ohne dass der König es bemerkte.

Einige Monate später reiste Semper selbst nach München, um sich – ohne Erfolg – um die Lagepläne zu kümmern und um alternative Bauplätze mit Wagner und dem König zu besprechen. Via seines Münchner Kollegen Gottfried von Neureuther kam Semper schließlich zu topographischen Plänen und konnte im Herbst 1865 seinen Entwurf für ein Provisorium und einen Grundplan für das Festspielhaus nach München schicken. Währenddessen hatte die Presse von dem Bauvorhaben und den drei berühmten Protagonisten berichtet. Die öffentliche Meinung war stark beeinflusst von der Haltung der Minister und der Königinmutter, die lieber den Staatshaushalt konsolidieren wollten, als Steuergelder zu verschwenden. Zusätzlich drehte sich leider die Stimmung gegen Wagner persönlich, der in den Augen der Bevölkerung und der Minister einen zu starken Einfluss auf den jungen König hatte, vor allem als publik wurde, dass Wagner beim König ein noch höheres Salär einforderte und damit drohte, sonst München zu verlassen.

Die Situation wurde für alle Beteiligten untragbar, und am 10. Dezember 1865 floh Wagner in die Schweiz in ein Haus des Königs am Vierwaldstättersee. Der König hielt aber an der Idee des Festspielhauses fest, um Wagner zur Rückkehr zu bewegen. Obwohl er noch immer keine schriftliche Auftragsbestätigung bekommen hatte, schickte Semper unbeirrt Zeichnungen für das Theater nach München, diesmal in drei Varianten. Als der König das Modell sah, wollte er das Projekt sofort bauen, und beauftragte Lorenz von Düfflipp aus seinem Kabinett, einem heimlichen Feind des Projekts, die Umsetzung zu betreuen.

»So vereinigen sich nun der größte der Architekten und der größte der Dichter und Tonkünstler ihres Jahrhunderts, um ein Werk zu vollführen, welches dauern soll bis in die spätesten Zeiten, zum Segen, zum Ruhme der Menschheit.« (König Ludwig II., 1867)

Drei verschiedene Bauplätze für das Festspielhaus wurden nun diskutiert. Die Ostseite des Hofgartens statt der Infanteriekaserne war davon der zentralste, aber auch der unspektakulärste Bauplatz. Die beiden Möglichkeiten am rechten Isarufer wurden favorisiert, weil dort während der Aufführungen weniger Lärm wäre als im Zentrum der Stadt. Die Nordvariante war die Verlängerung nach Osten der Galeriestraße, die leicht abgeknickt durch das Annaviertel hindurch geführt wurde und mit einer Brücke im Maximiliansstil über die Isar, zu einem, auf einem gigantischen Sockel thronenden 183 m breiten und 52 m hohen Festspielhaus endete. Das im Hinblick auf große Festlichkeiten multifunktional angelegte Gebäudeensemble öffnete sich auf beeindruckende Weise mit einem zentralen Triumphbogen am Eingang. Die Südvariante war parallel dazu die Verlängerung der Brienner Strasse und der Hofgartenstraße bis zur Isar. Mit letzteren Varianten wurde das Theaterprojekt zusätzlich zu einer städtebaulichen Intervention. Die öffentliche Diskussion über diese stadträumlichen Veränderungen, der Protest gegen die teure Infrastruktur und die durch Bodenspekulation sehr teuer gewordenen neuen Grundstücke stärkten die Opposition in ihrer Haltung gegen dieses Vorhaben.

Der König hielt jedoch am Projekt fest, hatte aber starken Widerstand aus dem Kabinett. Wagner wollte auf keinen Fall zurück nach München ziehen, da er nicht ohne Cosima leben wollte und die Affäre mit ihr in München, seiner Meinung nach, ein zu großer Skandal geworden wäre. Inzwischen war Wagner seine Idee einer Musikschule in München fast wichtiger als das Theater, und somit konnte Semper nicht mehr auf dessen volle Unterstützung beim König zählen. Nachdem auch weitere Pläne, Berichte und Materialvorschläge Sempers zu den drei Varianten des Theaters nicht dazu führen konnten, dass Semper eine schriftliche Beauftragung bekam, wurde er misstrauisch und engagierte den Advokaten Friedrich von Schauss, der vom bayerischen Hof ein Honorar von drei Jahren für Semper verlangte und mit einer Klage drohte, falls diese nicht beglichen werden würde. Diese Drohung führte schließlich zum Bruch mit dem König. Als es 1871 die Möglichkeit zum Bau eines Festspielhauses in Bayreuth gab, bat Richard Wagner den König Ludwig II., er solle den Bayreuther Architekten die Unterlagen von Gottfried Semper als Grundlage und Inspiration zuschicken. Tatsächlich wurden Ideen Sempers und Wagners im Entwurf in Bayreuth verbaut, die später wiederum auch zum Vorbild für das vom Architekten Max Littmann gebaute Prinzregententheater in München wurden.

Die Gründe für das Scheitern des Münchener Richard-Wagner-Festspielhauses sind vielschichtig. Der sehr junge und offensichtlich realitätsferne König wurde in diesem Vorhaben schließlich Opfer seiner fehlenden politischen Erfahrung und seiner Generosität. Er hätte sonst die politischen Schikanen und Verhinderungstaktiken des Kabinetts und der Minister, die Semper keine schriftliche Vereinbarung und nicht alle nötigen Plangrundlagen geben wollten, zu verhindern gewusst. Schließlich war Richard Wagners Verhalten auch ein Grund für den Misserfolg dieser genialen Idee. Er forderte beim König immer mehr Geld für die luxuriöse Möblierung seines Palais und seinen kostspieligen Lebensstil und nicht um seine Schulden abzubauen, oder schenkte dem König ein Porträt von sich mitsamt der sehr teuren Rechnung des Fotografen des Porträts. Wagners schlechte Reputation wurde zur Gefahr für Ludwig II. und er wurde scherzhaft sogar die »Lolotte« des jungen Königs Ludwig II. genannt, in Anspielung an Lola Montez, die ein verhängnisvolles Verhältnis mit König Ludwig I. hatte. 

Die Entwürfe für das Richard-Wagner-Festspielhaus in München waren das Ergebnis einer außergewöhnlichen Zusammenarbeit. Es entstand auch im Innenraum ein neuer Theatertypus. Wie bereits bei einem früheren unrealisierten Entwurf versuchte sich Semper hier an einem demokratischen Theater ohne Logen, stattdessen mit Sitzplätzen in gestreckter Anordnung, wie in einem Amphitheater. Durch die Absenkung des Orchestergrabens, noch tiefer als gewöhnlich, sollte man über das Orchester hinwegschauen können, um einen ungestörten Blick auf die Bühne zu bekommen. Die Vorderbühne, das Proszenium, sollte vergrößert werden, um dort Beleuchtungsmöglichkeiten zu schaffen und um räumlich stärker zwischen der Fiktion der Bühne und der Realität des Zuschauerraums zu trennen.

»Tägliche starke Spaziergänge mit Cornelius, der nun den einsamen Mittagstisch mit mir theilt, thun mir wohl: sie führen mich stets an dem Punkt vorüber, von welchem ich nach dem erhöhten Ufer blicke, dass das Festtheater der Zukunft tragen soll.« (Richard Wagner, 1867)

Ob man nun während eines Besuchs in der Münchner Oper den Wunsch nach einem demokratischeren Zuschauerraum mit Sitzanordnungen wie in einem Amphitheater hegt oder bei einem Spaziergang im Hofgarten sich die Verlängerung der Galeriestraße bis zur Isar ersehnt, beide Wünsche fundieren auf diesem Entwurf. Ohne das gemeinsame Projekt von Gottfried Semper und Richard Wagner, auf Anregung von König Ludwig II., könnten diese Phantomschmerzen der Erinnerung an ein ungebautes demokratisches Theater und an Richard-Wagner-Festspiele in München gar nicht entstehen. Was für eine verpasste Chance! Und jedes Jahr während der Bayreuther Festspiele wird man daran erinnert.

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