Everything is alive
Alles lebt
Text: Ian Chillag
I Ian
P Paul
Paul: Ich bin Paul. Ich bin ein Zahn.
Ian: Und was für ein Zahn bist du, wenn ich fragen darf?
P: Ein vorderer Schneidezahn. Ich kaue, ich beiße, ich knabbere, ich helfe dir, den Buchstaben T auszusprechen. Das sind meine Aufgaben.
I: Du bist eine Art Speerspitze.
P: Ja, genau.
I: Wenn wir uns Zähne vorstellen, dann in der Regel im Mund. Du bist aber nicht in einem Mund, wenn ich das richtig verstehe?
P: Nein, bin ich nicht.
I: Wo befindest du dich dann?
P: Ich lebe allein und gepflegt in einer Vitrine.
I: Und du bist ein erwachsener Zahn?
P: Genau. Ein erwachsener Zahn auf einem Regal. Manchmal strahlt mich ein Licht an. Es gab auch eine Zeit im Mund, das war aber vor dem K. o.
I: Weißt du, was passiert ist?
P: Nein, keine Ahnung. Es war ein echter Knock-out. Ich war komplett…
I: Weg?
P: Ich war komplett weg, ja. Ich nehme an, von einem Schlag, den ich einkassiert hab. Meine Vermutung: eine schwere Sportverletzung. Falls ich einen Helm aufhatte, war es vielleicht beim Klettern. Ein wenig abwegig, aber nicht völlig ausgeschlossen ist auch, dass ein Meteor durch die Atmosphäre raste und diesem Kerl direkt ins Gesicht geflogen ist. Die brutale Kraft hätte mich dann aus seinem Mund geworfen. Ein harter Schicksalsschlag eben. Ist ja nicht völlig undenkbar, oder?
I: Nein, möglich ist vieles.
P: Ich meine, vielleicht war es auch ein Kampf um die Ehre von jemandem, oder zur Verteidigung. Ich stelle es mir gern so vor, dass ich für jemanden einen Schlag eingesteckt habe, oder ... ja, dass ich vielleicht sogar in eine Schulter versenkt wurde. Dort bin ich dann stecken geblieben. Das wäre dann doch ein guter Abgang gewesen.
I: Hast du schon einmal von Jackie Chan gehört?
P: Ja. Im Kino hatte ich immer einen guten Blick auf die Leinwand, also solange es Popcorn gab. In der Regel können wir die erste Stunde sehen, auf alle Fälle die ersten dreißig Minuten, bis das Popcorn eben alle ist. Den Rest muss man dann erraten. Wenn man Glück hat, steckt man in einen Knabberer, dann kann man vielleicht sogar den kompletten Film sehen. Meiner war aber ein Schaufler … Aber ja, die ersten dreißig bis vierzig Minuten einiger Jackie-Chan-Filme habe ich gesehen.
I: Ich hab gelesen, dass Jackie Chan mal in einen Kampf verwickelt war und dachte, dass er sich den Arm gebrochen hatte, weil ein Stück seines Knochens aus der Haut ragte. Das ging dann ein paar Tage so – er ist ja schließlich ein harter Kerl –, bis er herausfand, dass es nicht sein Knochen war, sondern der Zahn seines Gegners.
P: Wie cool. Was für eine Legende. Ich hoffe, Jackie hat den Typen dann angerufen und gesagt: »Ich hab deinen Zahn. Egal was zwischen uns passiert ist, dein Zahn ist wie ein Held herausgefallen und verdient es, in Ehre zu seinem Heldenmund zurückzukehren.«
I: Erinnerst du dich daran, wie du k. o. gingst?
P: Leider nein.
I: Vermisst du den Menschen, in dem du warst?
P: Ich frage mich oft, wie er die Lücke füllt. Ich frage mich, was er gerade isst. Klar, ich würde auch gern wissen, was gerade passiert, wie es den Rest der Jungs geht und vor allem würde ich gern wissen, was eigentlich los war.
I: Wie viel weißt du über deine Person, also deine ehemalige Behausung? Ist das eigentlich die richtige Terminologie dafür?
P: Das kann man schon so sagen. Ich befand mich in einem menschlichen Mund. Und ich sah, was er aß. Ich wusste, wen er küsste. Ich wusste, wovon er sprach. Also, ich hatte ein gutes, sogar ein sehr gutes Gespür für den Typen.
I: Und das Küssen … wie fühlt sich das an?
P: Dunkel. Dann öffnet sich ein Spalt, ein kleiner Strahl Tageslicht bricht durch die Dunkelheit im Schlund. In der Dämmerung erkennt man eine weitere Wand aus Zähnen, die auf einen zukommt. Wir versuchen aber beim Küssen, den Zahn-zu-Zahn-Kontakt möglichst zu vermeiden.
I: Ja, das tun wir wohl alle.
P: Zu Recht. Es ist alles andere als ideal, zweiunddreißig Fremde direkt auf sich zukommen zu sehen. Man versucht, sich so zivilisiert wie möglich zu benehmen und Abstand zu halten.
I: Und doch ist man ganz nah dran…
P: Mhm.
I: Sprecht ihr darüber, was passiert?
P: Worüber?
I: Das Küssen.
P: ... Küssen. Sagen wir es mal so: Ich fühle mich nicht direkt involviert. Man ist ja auch nicht daran beteiligt, wenn sich zwei andere Menschen küssen, oder findest du etwa Freude daran?
I: Zwei Leute zu beobachten?
P: Ja. Stehst du drauf, zwei Menschen beim Küssen zuzusehen?
I: Nein.
P: Eben. Und jetzt stell dir vor, du bist dabei in ihrem Mund.
I: Gibt es in der Zahnwelt etwas Ähnliches wie Küssen?
P: O ja: Sellerie.
I: Paul, wie ist es mit dem Zähneputzen?
P: Es fühlt sich gut an, gereinigt zu werden.Gebürstet fühlt man sich großartig. Wie neu. War ja nicht immer so …
I: Meinst du damit die Milchzähne?
P: Nein, Zähne im Laufe der Geschichte.
I: Okay.
P: Früher sah man als Zahn nicht immer so strahlend aus.
I: Stimmt. Als ich mich auf dieses Interview vorbereitete, habe ich gelesen, dass Leute zu Beginn des 20. Jahrhunderts Radium verwendeten, um die Dinge im Dunkeln leuchten zu lassen, und es eine Frau gab, die sich ihre Zähne mit Radium bemalte, um sie zum Glänzen zu bringen.
P: Das klingt wunderschön.
I: Aber wohl nicht sehr langlebig.
P: Ach was, die Zähne gibt es bestimmt noch.
I: Leuchten tun sie wahrscheinlich auch immer noch.
P: Wäre ich mit Radium eingedeckt gewesen, hätte ich für meinen Mann leuchten können. Stell dir vor: Abends geht er auf die Toilette, lächelt ein wenig, und ich leuchte ihm den Weg ins Badezimmer. Hell und sicher. Vielleicht ist das der Grund, weswegen ich hier bin. Es war nachts, kein Radium, er ist gestolpert, gestürzt, und dann lag ich da.
I: Radium hätte dich retten können.
P: Ja, mich schon. Für ihn wäre es wohl langfristig keine gute Entscheidung gewesen.
I: Paul, kennst du eigentlich die Zahnfee?
P: Die Zahnfee, natürlich.
I: Auch als erwachsener Zahn? Die Zahnfee kommt ja nicht für dich.
P: Zum Glück. Ich würde das gar nicht wollen. Niemand weiß, was sie mit den Zähnen macht. Möbelbau? Straßenbau? Ich finde es sehr seltsam. Würdest du doch auch, wenn jemand zu dir kommt und sagt: »Hey, ich will deine Zähne! Hier hast du einen Euro.« Das ist doch nicht ganz koscher.
I: Ja, stell dir mal vor: »Mein Hobby ist, in fremde Häuser zu gehen und Leute für ihre ausgefallenen Zähne zu bezahlen.«
P: »... Für meine Sammlung.« Gruselig. Man würde anfangen, darüber zu reden: »Habt ihr schon gehört? Die Alte sammelt Zähne. Was ist denn mit der los? Was macht die denn damit?«
I: »Wieso braucht die so viele Zähne?«
P: Man braucht ja unmöglich so viele Zähne! Bah. Zum Glück muss ich mir darüber keine Sorgen machen. Ist für uns Erwachsene nicht mal eine Option. Ich würde es sogar ganz cool finden, wenn sie mit mir einen kurzen Ausflug zum Mund machen würde und mich dorthin zurückbringt oder mich einfach besucht und mir erzählt, wie ich hierhergekommen bin. Das wäre super.
I: Ich muss zugeben, als wir heute angefangen haben zu reden, habe ich gehofft, dass dein Gedächtnis zurückkommen würde. Aber bei dir passiert gar nichts, oder?
P: Null.
I: Wir könnten diese Lücke gemeinsam mit einer Geschichte füllen.
P: Das wäre schön.
I: Lass uns den Anfang inszenieren. Du bist im Mund.
P: Mhm.
I: Vielleicht ist dein Mann gerade auf einem Spaziergang.
P: Es muss Winter sein. Ich klappere fürchterlich. Alles fühlt sich eisig kalt an. Als Zahn bin ich ja besonders empfindlich dafür.
I: Plötzlich rennt dein Mann los.
P: Vielleicht will er noch den Bus erwischen. Vermutlich ist er wie immer zu spät dran.
I: Genau.
P: Der Gehweg ist glatt. Plötzlich blicke ich direkt in den Himmel. Ich fliege durch die Luft, schwebe für einen Moment wie schwerelos. Es ist so hell. Ich warte darauf, dass sich der Mund wieder schließt, aber es passiert nichts. Ich bin nicht im Mund.
I: Kannst du deinen Mann sehen?
P: Ja, ich sehe ihn zum ersten Mal. Niemand ist in meiner Nähe. Ich bin allein. Kein Gebiss, nur ein einzelner Zahn.
P: Jetzt liege ich in einer warmen Handfläche, wie seltsam sich das anfühlt. Ich werde zu ihm hingetragen. Dann sehe ich sein Gesicht, sein Lächeln – ohne mich drin. Er schaut nicht mich an, sondern die Person, die mich hält. Es gibt irgendeine Verbindung zwischen den beiden. Sie lachen sogar darüber, dass ich aus dem Mund gefallen bin. Es scheint, als wäre alles in Ordnung. Ich gehe nicht zurück in den Mund. Mein Mann und diese Person reden weiter.
I: Und das ist der Grund, warum du in einer Vitrine wohnst. Du bist etwas Besonderes, ein Andenken.
P: Ein Souvenir. Ich bin derjenige, der das alles ermöglicht hat. Ich bin derjenige, der in die Welt hinausging und meinem Mann die Person gebracht hat und gesagt hat: »Guck mal, wen ich mitgebracht habe. Schau, wer mit mir hergekommen ist.«
I: Du hast sie vorgestellt.
P: Ganz genau.
P: Können wir während dieser Erinnerung noch eine Sache hinzufügen?
I: Natürlich.
P: Ich würde mich gern von den anderen Zähnen verabschieden.