Die Erinnerung kommt plötzlich. Ich sehe von Weitem einen Typen, der eine ähnliche modische Entscheidung getroffen hat wie dieser eine Ex-Lover, mit dem es so ungut auseinander ging. Mein Hirn schickt mir einen ungewollten Gruß aus der Vergangenheit. Ich bin es ja unzweifelhaft selbst gewesen, die mit dieser Person Tage und ein Bett geteilt hat. Wäre es nicht ein Segen, diesen Umstand einfach ein für alle Mal aus meinem Gedächtnis zu streichen? Hier ein paar Ideen, wie das gelingen kann:

Niemand weiß, dass es uns überhaupt gegeben hat, Babe

Um besser vergessen zu lernen, müssen wir erst mal wissen, was in unserem Kopf passiert, wenn wir uns erinnern. Das Hirn schickt uns seine Nachrichten aus vergangenen Zeiten, wenn gespeicherte Informationen durch einen Trigger aktiviert werden. Das kann zum Beispiel ein bekanntes Gesicht sein, ein Geruch – oder eben eine eigenwillige modische Entscheidung einer Person an der Ampel gegenüber. Erinnerungen sind im Hirn in einem Zellverbund gespeichert und zwar ziemlich gut. Das Langzeitgedächtnis ist bei Erinnerungen – sind sie einmal festgeschrieben – ein ziemlich hartnäckiger Archivar. Nicht mal ein Vollrausch hilft mir da jetzt. Der macht vielleicht kurzfristig Spaß und die Erinnerung an den Abend selbst kann dabei auch tatsächlich unwiderrufbar gelöscht werden. Die Erinnerung daran, wie verdammt gut er in diesen Dickies 874 (basic! duh.) ausgesehen hat, bleibt immer noch vorhanden. So richtig löschen kann ich diese Erinnerung nur über eine handfeste Amnesie – zum Beispiel durch eine wirklich schlimme Kopfverletzung. Wollen wir safe nicht. Das einzige, was man probieren kann: dem Erinnern, wenn möglich, aus dem Weg zu gehen. Wie kriege ich also die ungeliebten Bilder aus meinem Hirn?

Erinnerungshygiene

Erinnerungen sind ein bisschen wie Muskeln: Das woran wir uns oft erinnern, sind gut trainierte Erinnerungen, die schnell abrufbar sind. Auf der anderen Seite: Auch auf Zellebene können wir uns das Prinzip der menschlichen Trägheit zunutze machen. Erinnerungen sind zwar persistent – sie lassen sich aber neurologisch verstecken. Das sagen amerikanische Forscher:innen (you gotta love them). Aktives Vergessen funktioniert ungefähr so: Sobald eine Erinnerung auftaucht, derer wir uns gern entledigen würden (– Ja, es gab einen Anruf nachts um drei beim Dickies-Typen, ja, es war die reine Selbsterniedrigung, und nein, ich will nicht darüber sprechen), schalten wir um auf eine Erinnerung, die uns lieber ist. Die uns im besten Fall sogar glücklicher macht. Sommerurlaube sind beispielsweise gut für so etwas. Gegebenenfalls auch hier: ein besonders gelungener Vollrausch (insofern wir ihn erinnern). Ein neuer Typ, vielleicht sogar mit besserem Geschmack. So legen wir in unserem Hirn die Weichen um. Die Nervenbahnen zu den Erinnerungen, die wir vermeiden, werden hingegen auf diese Weise ein bisschen schlechter befahrbar ... und irgendwann geht’s dem gespeicherten Erlebnis wie einem dieser Mini-USB-Kabel in der Schreibtischschublade: Es ist noch da – irgendwo. Aber müsste man jetzt echt suchen. Gar keinen Bock.

Leider sind wir mit dieser Methode nicht davor gefeit, immer mal wieder mit Triggern konfrontiert zu sein, die Erinnerungen hochkommen lassen, von denen wir vielleicht wirklich gar nicht mehr wussten, dass wir sie noch haben.

Geschichtsschreibung durch die Nase

Der Geruch von Omas Parfüm, von schmelzendem Schnee im Frühling oder diese Kaugummisorte, die ER immer gekauft hat: Wenn es darum geht, Erinnerungen schlechter verfügbar zu machen, sind Gerüche nicht gerade hilfreich. Im Gegenteil, sie sind der DeLorean unter den Gedächtnisstützen.

Der Soziologe und Schriftsteller Ilija Matusko schreibt in seinem Buch »Verdunstung in der Randzone« darüber, wie der Geruch der Fritteuse in der Gaststätte seiner Eltern für immer mit seiner Identität verknüpft ist. Dass seine Mitschüler ihn in der Schule begrüßt hätten mit: »Es riecht nach Pommes, Ilija kommt.« Eine Frage, die ihn seither beschäftigt: Kann ein Geruch – und die damit verknüpfte Erinnerung – Teil dessen werden, woraus man als Person zusammengesetzt ist? Ich frage mich: Können wir parallel zur Erinnerung an bestimmte Gerüchen auch Anteile unseres Selbst schwächen oder stärken?

Warum eigentlich nicht? Wer vergessen will, wie es in der Gaststätte seiner Eltern gerochen hat oder welche Kaugummisorte ER immer gekaut hat, sollte vielleicht auf physischer Ebene, also bei der Nase anfangen. »Etwa zwanzig Prozent der Weltbevölkerung leiden in irgendeiner Form an einer Geruchsbeeinträchtigung« so wirbt der Hersteller eines »Geruchstrainings« für sein Produkt. Um Erinnerungen gezielt auszuschalten, wäre es vielleicht hilfreich, ebenfalls zur Betroffenen von Geruchsbeeinträchtigen zu werden. Ich google: Infektionen der oberen Atemwege können dauerhaft zu einer geringeren olfaktorischen Sensitivität führen. Na, das ist zu schaffen. Dazu müsste es ja eigentlich schon reichen, zur Erkältungssaison viel Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbringen. Leider birgt dieses Verfahren die Gefahr, dass durch eine Dauernutzung der U-Bahn neue traumatische Erinnerungen geschaffen oder alte wieder wachgerufen werden (»Die Fahrkarten bitte«), an die man dann wieder ranmüsste. Nervig. Und gar nichts mehr riechen? Auch irgendwie traurig.

Für Hartgesottene gibt es die Möglichkeit, den Trigger-Geruch zu überschreiben. Auch hier lauern Herausforderungen: Wie kriege ich den speziellen Geruch eines Parfüms auf der Haut einer bestimmten Person hin, ohne sie zu kontaktieren? In Einzelfällen kann das aber auch einfacher gehen. Stichwort Kaugummi. Um die Erinnerung von IHM zu entkoppeln, müsste ich jetzt immer Packung der betreffenden Sorte bei mir tragen. Und in jedem Moment, in dem es mir alleine gut geht: zum Beispiel nach dem Joggen, wenn die Endorphine wohlig fließen – und dann rein mit den Kaugummis! Wer wirklich vergessen will, darf zunächst mal erst mal keine übergroße Angst vor dem Erinnern haben. Reclaim your senses!

Übrigens – wem das zu aufwendig ist: Was Gerüche betrifft, gibt es für alle Geduldigen irgendwann Abhilfe. Je älter wir werden, desto schlechter können wir riechen. Und vielleicht wird man ja auch milder mit sich selbst und verzeiht sich einfach den Dickies-tragenden Kaugummitypen. Auch eine Option.

 

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