C’est moi
von Sean Cole
von Sean Cole
31. Mai 2014 – 13:07 Uhr
C’est moi. Love you lots. Talk to you soon. Bye.
Meine Mutter hatte mich oft angerufen. Was aber nicht heißt, dass wir viel telefoniert hätten. Nicht jedes Mal nahm ich ab, wenn es klingelte. Im Durchschnitt habe ich wohl vier von fünf Anrufen nicht angenommen. Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, wäre ich ein viel reaktionsfähigerer Sohn. Das geht jetzt nicht mehr – mit ihr zu reden. Wobei doch, mit ihr reden könnte ich schon, sie wird nur nicht antworten. Meine Mutter – ihr Name war Pat – starb am 28. September 2015 um 4:22 Uhr und hinterließ mir eine kleine Audiobibliothek voller Sprachnachrichten. Sie war eine Meisterin ihrer Form.
9. März 2014 – 12:55 Uhr
C’est moi. Bye.
Sie ist keine Französin gewesen. Im Ruhestand war sie viel gereist und plante wohl zu der Zeit dieser Kurznachricht eine Reise nach Paris und Lyon. Sie präsentiert ihre wenigen Worte mit dem Laissez-faire-Charme eines Starlets aus den 1960er Jahren, das einem eifrigen Verehrer einen Seidenschal zuwirft. Das war eine der Stilformen ihrer Botschaften. Es gab diverse. Sie konnte etwa nicht nur oberflächlich, sondern auch komödiantisch roboterhaft sein.
13. April 2014 – 11:35 Uhr
A message from yo’ mom, bye.
Sie konnte auch exzellent schwafeln. Insbesondere in ihren Antworten auf die wenigen Nachrichten, die ich ihr hinterließ. Ohne jeglichen Kontexthinweis kann man diese anhand der Begeisterung in ihrer Stimme erkennen. Die geringfügige Aufmerksamkeit, die ich ihr geschenkt hatte, war als würde ich eine kleine Batterie an ihren Arm anschließen.
23. März 2015 – 18:54 Uhr
Yo Sean! This is your mum. I’m sorry I wasn’t home when you called. Decided to go to the Royal for supper tonight so that’s what we did and went early and went back early. It is still light out, if you can imagine that. So I don’t know what you’re doing. Maybe you’re on your way home or whatever. What time is it? Oh it’s 6:52. Huh. Yeah. It’s later than I thought. I can’t believe it’s still light out. So this is me. C’est moi. I’m here. Um. Right. Yo aqui. And looking forward to hearing from you, so when you get this, please, if you have a chance, call me back. Or call me ... you can call me later, you know, too. I don’t go to bed until about 10 or so. And I’m usually awake for a while because I read for a while stuff like that. Love you, love you, love you. Talk to you soon. Bye.
Es fühlte sich an, als ob sie mit mir im Gespräch wäre, nur sprach sie für beide Seiten. Sie wusste nicht, dass ich diese Nachrichten speicherte. Und die schreckliche Ironie ist, dass ich es tat, weil ich wusste, dass sie nicht für immer da sein würde. Ich bereitete mich auf ihre Abwesenheit vor, indem ich ihre Anrufe ablehnte, während sie noch lebte und sich danach sehnte, mit mir zu sprechen.
Ich denke, jede Nachricht, die wir von unseren Eltern erhalten, sagt unabhängig vom eigentlichen Inhalt im Wesentlichen dasselbe aus: »Ruf mich zurück. Warum rufst du mich nicht zurück? Ich und eine andere Person haben dich mit unseren Körpern erschaffen. Erweis uns doch bitte dieselbe Höflichkeit wie dem Praxisleiter deines Zahnarztes und den unzähligen anderen fremden Menschen, mit denen du tagtäglich sprichst.« Wenn meine Mutter das nicht gerade indirekt sagte, sagte sie es manchmal auch direkt. Das konnte desaströs klingen.
Datum und Uhrzeit unbekannt
I heard you on the radio on Sunday. And I knew it was you ’cause I recognized your voice. Even though it’s been a long time since I heard it on the phone. So anyway, love you lots and lots. Call me when you ... when you think of it. If you ever do. Love you, bye.
Man hört es nicht, wenn man es nur liest, aber dieser Knüppel wurde in einer zuckersüßen, beschwingt-fröhlichen Tonlage vorgetragen. Tony Soprano als Mezzo-Sopran. Meine Mutter hatte Bandbreite. In diesem Beispiel belebt ihre Stimme ein gespenstiges Dröhnen, welches sich am Ende zu einem Flüstern verjüngt.
19. Juli 2015 – 14:58 Uhr
Dooooon’t forgeeeet to caaaaaall youuuuuur motheeeer! Goodbyeee!
Dieser Nachricht folgen unerklärliche zwei Minuten, neunundvierzig Sekunden gähnender Stille, während sie wohl im Haus umherlief. Ich denke, sie hatte vergessen, aufzulegen. Als hätte John Cage Schuldgefühle komponiert. Ich will mich auch nicht zu sehr auf die Einschüchterungstaktiken konzentrieren. Es gab auch süße Sprachnachrichten.
Als ich vierzig Jahre alt war, zog meine Mutter zusammen mit meinem Stiefvater aus meinem Elternhaus in eine Wohnanlage auf einem Golfplatz in Massachusetts um. Keiner von beiden spielte Golf. Meine Mama ärgerte die Golfer mit Vorliebe, indem sie unerlaubte Spaziergänge auf der Cartway nahm. Manchmal begleitete ich sie dabei.
In den nächsten dreiundzwanzig Wörtern hat sie es geschafft, unglaublich viel Liebe zu kondensieren.
23. Februar 2014 – 11:57 Uhr
Out walking thinking of you, my walking buddy, and wishing you were here, hope you’re having a great time, love you lots, bye.
Ein paar Monate später waren es nur drei Minuten lang der Laut ihrer Schritte. Hosentaschenanruf – aber umso näher schien sie mir.
Das war meine Mutter. In gewisser Weise frage ich mich, ob das Speichern dieser Nachrichten ihr keinen Gefallen tut und sie mir so nur als Frau eines ganz bestimmten Alters in Erinnerung bleibt. Sie war einundachtzig Jahre und anderthalb Monate alt, als sie eines Abends im Esszimmer hinfiel, das Bewusstsein verlor und es nie wieder erlangte. Es war im Wesentlichen ein schwerer Schlaganfall, was vielleicht das Uninteressanteste war, was ihr jemals passiert ist.
Spult man in ihrem Leben zurück, sieht man eine Frau mit professioneller Kameraausrüstung um die Welt reisen, um an unsagbar schönen Orten galeriewürdige Fotos aufzunehmen. Zuvor ist sie Schlittschuh gelaufen und war Teil einer Synchronlaufmannschaft namens »Esprit de Corps«. Sie nahm Eistanzunterricht bei gut aussehenden Lehrern. Zu den Anfangszeiten der ersten Desktop-Computer arbeitete sie als Redakteurin und sprach eine Art technisches Patois – ein alter französischer Dialekt, den nur noch wenige Menschen in Frankreich beherrschen –, das ich damals und heute immer noch nicht verstehe. Doch das war nur ihre zweite Karriere. In ihrer ersten unterrichtete sie Philosophie, aber nur, weil sie in den 1970er Jahren nicht gleichzeitig Frau und Pastor der christlichen Unitarier sein konnte. In ihrer Doktorarbeit, die ich bei mir im Büro aufbewahre, behandelte sie das Thema »Die Funktion der Kirche als Kritik der Gesellschaft am Beispiel der internationalen Politik der Vereinigten Staaten«. Ihr finales Ich ist vielleicht einfach deshalb am denkwürdigsten, weil es das jüngste war. Und es ist dieses Selbst, welches ich auf Audio in mehr Dimensionen konservieren konnte als auf einem schalen Erinnerungsfoto. Unsere Stimmen enthalten so viel von uns: Unsere Emotionen. Unsere Überzeugungen. Diese Nuancen verraten eine Wahrheit, denen unsere Worte zu widersprechen versuchen.
Ich hielt für meine Mama die Grabrede. Es war die erste Laudatio, die ich je gehalten habe. Es war in einer Unitarierkirche auf Cape Cod, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem sie ihre letzten Atemzüge getan hatte. Ich beschloss, einige ihrer Sprachnachrichten abzuspielen und so über sie zu reden wie hier. Ich erinnere mich daran, wie ihre Stimme den Raum erfüllte und in diesem Raum, der für sakrale Klänge gebaut worden war, widerhallte. Es war wundervoll, wie lustig sie sich anhörte. Ihr Klang war so transzendent, viel bedeutsamer als all jene Atome, die wir später in dem Moor verstreuten, auf dessen Promenade nun ein Brett mit ihrem Namen eingraviert ist. In gewisser Weise sind ihre Sprachnachrichten auch ein kleines Denkmal. Der Beweis ihrer Anwesenheit. Eigentlich sind sie auch gar nicht so schwer anzuhören, wie ich es mir immer vorstelle, bevor ich schließlich auf »Play« drücke.