Naturzustand

Von Vera Schroeder

Lesedauer: ca. 9 min

Gibt es sie noch, die unberührte Natur? Und ist sie überhaupt lebenswert oder könnten wir in ihr wenigstens überleben? Vera Schroeder meldet sich aus dem Crawfordium.


Der Mensch, lustiges Tierchen. Jetzt hat er sich ein neues Label für seine gnädige Erde ausgedacht: Anthropozän. Neues geologisches Zeitalter, das festhält, dass er jetzt einmal groß herummarkiert hat, wie so ein Hund, der Mensch, kein Stück Erde mehr ohne sein Spuren. Anthropos: der Mensch; kainos: neu. Löst das Holozän ab, das Nacheiszeitalter, Holos: das Ganze, manche sagen auch Present dazu; haha: schon veraltet, diese ganze Gegenwart.

Okay, kurzer Wissensblock, keine Angst, mit Eselsbrücke. Die Eselsbrücke wäre eine Schneekugel mit Cindy Crawford darin. Ein heiter winkendes Topmodel im Bikini in weiße Flocken gehüllt. Also: Im kanadischen Crawford-See sitzt die Markierung für den Wechsel vom Holozän ins Anthropozän, ein globaler Referenzpunkt, weil da so was tolles Schneekugelartiges abgeht. Jeden Sommer, wenn die Wassertemperatur einen bestimmten Punkt überschreitet, flocken Calciumionen und Carbonate aus, weiße Teilchen, die dann auf den Boden des Sees absinken und da eine dünne helle Schicht bilden. Im Winter gibt es die weißen Partikel nicht, da fällt anderes Zeug auf den Boden: Spuren aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe, Stickstoffdünger-Reste, Plastik, Aluminium, Atombombentest-Reste, all der menschliche Scheiß, schwarze Schichten zwischen den weißen. Jetzt liegt da unten am Grunde des Sees ein über Jahrhunderte gewachsenes Muster, Jahresschicht um Jahresschicht unterscheidbar, wie Baumrinden oder Fingerrillen, einzigartig, ein Archiv der Erdgeschichte, das zeigt: Der Mensch hat’s fossil wirklich dingfest gemacht. Die Spuren sind da, überall. Das können auch die in Jahrmillionen noch entdecken, also wenn noch jemand da ist. 

Crawfordium nennt man das nun auch, nix Ayahuasca-Seminar für postmenopausale Cindy-Crawford-Fans: der Beginn des Anthropozäns. Bravo, Mensch: Erde markiert, Fähnchen in den Boden dieses kalten Sees gerammt. Irre prätentiös, wie immer, der Homo sapiens: Jetzt hat er sogar ein Erdenzeitalter klargemacht für sich. Dass er dabei selbst draufgehen könnte? Mei, wo gehobelt wird, da fallen halt Späne oder Calciumionen oder Schneekugelflocken oder Schnee bald nicht mehr oder was auch immer.

Andererseits, Acht-Minuten-Kurzfilm aus dem Jahr 2001, Titel: »Das Rad«. Stehen zwei Steinmännchen irgendwo am Hügel in der Urzeit herum, die beiden bewegen sich in Echtzeit, acht Minuten lang – außen herum rauscht die Erdgeschichte in Vollspeed vorbei. Ab und an wächst dem einen Steinmann in Sekundenschnelle ein bisschen Moos auf dem Rücken, das der andere dann freundlich abkratzt. Erst alles grün, Urzeit, Wald, Dinos, Sturm. Kommt ein Neandertaler mit Keule im Schnelldurchlauf vorbei, ein Holzhaus am Hügel da – weg, Bäume fallen, Bäume wachsen, zieht ein Wagen vorbei, das Rad ist erfunden, eine Burg, ein Feuer, wieder ein Wald, Teer. Eine Straße im Hügel, Steinhäuser, bald Wolkenkratzer. Ein riesiges Werbeschild direkt vor der Nase der Steinmänner auf ihrem Hügel, tausende Plakate im bruchteilsekundenschnellen Wechsellauf, außenrum Hochhäuser, Blinken, Blitzen, Stadt, Lichter und Turbo. Kurz alles Schwarz. Ein Kurzschluss knistert. Eine Licht flackert auf. Schwarz. Hochhäuser dunkel, zerfallen, Apokalypse fast forward, das Werbeschild schimmelt, fällt um, die Flechten kommen, dann die Moose und die Büsche und die Bäume. Die Natur erobert sich das Grau zurück, überwuchert, überwächst, Ruhe, Wald, Wasser, Grün. Die Steinmännchen, die sich acht Minuten lang nur hie und da einmal das Moos von der Schulter gekratzt und das Schauspiel vor ihren steinigen Nasen bewundert haben, drehen sich zueinander um. Sagt der eine zum anderen: »Mhm. Das ist ja nochmal gut gegangen.«

Natur, was soll das überhaupt sein da draußen? Ist ja doch lächerlich. Wir sagen: Lass mal raus, in die Natur. Und dann sitzen wir an so einem Baggersee oder vor einem Gipfelkreuz oder an einem aufgeschütteten Strand an der Adria oder in einer Wiese in Sachsen. Gab gar keine Wiesen in Deutschland eigentlich. Gab nur Wald. Wiese ist Kultur! Der Mensch hat die Natur kultiviert, so dass es ihm passt, und jetzt sagt er trotzdem, er fährt raus in die Natur, aber das ist eine Lüge, weil er fährt nur raus in die kultivierte Natur, oder die naturierte Kultur, wie auch immer.

Wobei schon auffällig ist, dass sich der Mensch kaum der Natur angepasst hat, aber die Natur so sehr dem Menschen. Er hat sie gezwungen. Jetzt sitzt er da in seinem Glamping-Pod am Campingplatz und fühlt sich erdnah und wenn eine Ameise kommt, schüttet er Kaffeepulver drauf. Wussten Sie, dass es auf allen Kontinenten Ameisen gibt, außer in der Antarktis? Die Winterameise Prenolepis imparis kann sich sogar Hitze anpassen: Wenn es zu heiß wird, arbeiten alle Tiere zusammen und verlagern das Nest im Boden weiter nach unten ins Kühle. 

Überhaupt Anpassung, wilde Geschichte: Der Zugvogel Mönchsgrasmücke brütet in Deutschland, hat früher in Spanien überwintert und taucht jetzt plötzlich immer zahlreicher im Winter in England auf. Die Genetik gibt den Vögeln die Flugrichtung vor, schon immer gab es anscheinend Irrläufer, die wegen zufälliger Erbgutveränderungen aus Versehen in die falsche Richtung flogen und dann im langen kalten englischen Winter erfroren. Jetzt Klimawandel: Die Irrflieger überleben und haben sogar den Sechser im Evolutionslotto gewonnen, ihre Zugstrecke ist um ein Drittel kürzer als die nach Spanien, sie sparen Kräfte und sind im Frühjahr als Erstes zurück, was ihnen die besten Brutplätze sichert und die Paarung mit anderen »Engländern«, weil die »Spanier« noch gar nicht zurück sind. Der Nachwuchs ist dann ebenfalls auf Richtung England programmiert – und irgendwann ist Spanien leer.

Anthropozän heißt auch: Evolution im Zeitraffer, nix mehr Makro- und Mikroevolution über Jahrtausende und Jahrmillionen, wie Onkel Darwin dachte. Das geht jetzt fix.


Garnelen, Schlangensterne, Anemonen und viele andere Wassertiere nutzen Plastikmüll, um über den Pazifik nach Nordamerika zu reisen. Da kommen sie ohne den Menschenschrott sonst gar nicht hin. In Mosambik bilden Elefanten keine Stoßzähne mehr aus, weil die ohne Stoßzähne wegen der menschlichen Jagd nach Elfenbein in den vergangenen Jahrzehnten einen Selektionsvorteil hatten. Es gibt neue Eisbärstämme in der Arktis, die brauchen keine Schollen mehr, die können auch Gletscherränder. Der Kabeljau ist in den vergangenen Jahrzehnten immer dünner und kleiner geworden, weil er so nicht so leicht in den Netzen der Fischer hängen bleibt. 

Und die asiatische Tigermücke, die Sau, ist jetzt in Deutschland auch schon da. So eine Angebermücke in ihrem Streifengewand, auch schon mal eine erschlagen? Natur erschlagen: ebenfalls so was, was der Mensch gut kann, aber die Natur erschlägt natürlich auch ganz gern zurück. Die Blitzaktivitäten in den Hochalpen, haben Forschende zuletzt festgestellt, hat sich in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den achtziger Jahren in etwa verdoppelt. Den weltweiten Blitzrekord hält der Maracaibo-See in Venezuela, da gewittert es durchschnittlich an zweihundertsiebenundneunzig Tagen im Jahr.

Eine Frage bleibt, nämlich wie sehr der Mensch, der die Natur kultiviert hat, genau deshalb für sie verantwortlich ist. Und was das eigentlich heißt: verantwortlich? Denn, ehrliche Frage – warum braucht’s das denn: Naturschutz? Oder Klimaschutz? Handelt es sich nicht eigentlich vor allem um: Menschenbedingungenschutz? Und was hat das zu bedeuten? 

Nix Rewilding, nix Renaturierung, nix wird je wie Anfang. Die Spuren der Menschen sind tief. Man kann neue Kultur schaffen, ohne Korallen und ohne die komplett ausgebrannte hawaiianische Stadt Lāhainā, aber doch bessere, menschenfreundlichere, tierfreundlichere, weniger giftige, klimafreundlichere Zukunft. Aber »re« zur »Natur«? Im blödesten Fall wachsen über Jahrzehnte erstmal überall nur noch Brennnesseln. Restore, Restaurieren, vielleicht?

Abends lese ich den Kindern das Buch »Barbapapa rettet die Tiere« vor, geschrieben 1970. Sie bauen eine Arche in Form einer Rakete. Die Menschen auf der grauen Erde sind traurig. Jetzt vermissen sie die Blumen und Tiere. Daher beschließen sie, alles sauber zu machen. Barbarix sieht durch sein Fernrohr, dass die Erde wieder grün geworden ist. Also kehren alle zurück. Es ist Zeit für ein großes Barba-Fest.

 

Wie gefällt Ihnen der Artikel?

304 Reaktionen

zur Übersicht

Entdecke noch mehr Artikel aus dem Dossier VII