Britney Spears, das ist zunächst einmal die Geschichte eines talentierten Kleinstadtmädchens aus dem amerikanischen Süden, das es hinausschafft in die große Welt. Spears, geboren am 2. Dezember 1981, wächst in Kentwood, Louisiana, im Herzen des sogenannten Bibelgürtels auf. Von klein auf nimmt sie Tanz- und Gesangsunterricht, ihre Eltern fahren mit ihr zu Castings im ganzen Land. Dann, im Alter von elf Jahren, ergattert sie ihre erste große Rolle: In der Disney-Fernsehshow »Mickey Mouse Club« singt sie an der Seite von Ryan Gosling, Justin Timberlake und Christina Aguilera. 1998, Britney Spears ist sechzehn Jahre alt, folgt der erste Plattenvertrag, kurz darauf die Debütsingle »Baby One More Time«. Der Song wird in mehr als vierzig Ländern ein Nummer-eins-Hit und macht aus Spears einen Weltstar.
Im deutschsprachigen Raum verfolgt kaum jemand den Aufstieg von Britney Spears näher als Alex Gernandt. Gernandt ist damals Chefreporter für die Zeitschrift Bravo und damit so etwas wie der Starmacher für die deutsche Jugend. »Sie und zwei Tänzer in einem Münchner Fotostudio« – Gernandt beschreibt Spears’ ersten Auftritt auf deutschem Boden relativ unspektakulär. Die Plattenfirma habe sie schlicht als »Teeniesängerin aus den USA« angekündigt. Aber Gernandt, der Madonna interviewt und Michael Jackson auf Tournee begleitet hat, sagt über Spears: »So etwas wie sie hat es damals noch nicht gegeben. Sie war eine neue Art von Popstar.«
Spears’ Durchbruch in den späten 1990er Jahren geschieht zu einer Zeit, als die Musikindustrie auf die Vermarktung von Boybands setzt. Zielgruppe sind junge Mädchen, die davon träumen, eines Tages einen Freund wie Nick Carter von den Backstreet Boys zu haben. Doch dann kommt Britney. Statt eines Jungen, den man begehren kann, ist da eine junge Frau, die alles ist, was zwölf- bis fünfzehnjährige Mädchen sein wollen: selbstbewusst, frech, etwas sexy, aber ohne zu sehr anzuecken. Alex Gernandt sagt: »Britney war ein Rolemodel. Wie lebt sie? Welchen Freund hat sie? Das waren Fragen, mit denen konnten sich alle Mädchen identifizieren.« Sechsundfünfzig Mal nimmt die Bravo Spears auf die Titelseite, das gelang nicht einmal den Beatles. Einmal fliegt Gernandt nach Los Angeles, einfach um Spears einen Preis zu überreichen, den die Leser ihr verliehen haben.
Die Marke Britney Spears ist von Anfang an ein Widerspruch. Einerseits verkörpert sie das All-American Girl: blond, schlank, weiß, immer lächelnd und immer freundlich. Selbst als sie an einer Medienkonferenz in einem Raum voller Journalisten gefragt wird, ob sie noch Jungfrau sei, bleibt Spears in ihrer Rolle und erklärt, mit dem Sex bis zur Ehe warten zu wollen. Anderseits ist da ihr lolitahafter Auftritt. Sie tanzt in Musikvideos in kurzen Röcken und bauchfreien Oberteilen. Als sie siebzehn Jahre alt ist, posiert sie für den Rolling Stone in Unterwäsche in einem Puppenzimmer. 1999 wird Spears’ Beziehung zu Justin Timberlake bekannt. Die beiden kennen sich vom »Mickey Mouse Club«, nun tingeln sie in tadellos aufeinander abgestimmten Jeans-Outfits über die roten Teppiche der Welt. Die Beziehung wird zum modernen Märchen stilisiert, Fans und Boulevardpresse lieben das Paar: sie, das keusche Sexsymbol, und er, der Boyband-Mädchenschwarm.
Noch bevor Britney Spears zwanzig Jahre alt wird, hat sie alles erreicht. Sie verkauft mehr als siebenunddreißig Millionen Alben, spielt in einem Kinofilm mit und tritt am Super Bowl und mit Michael Jackson auf. Spears verkörpert den amerikanischen Traum. In eine Durchschnittsfamilie in einer Kleinstadt auf dem Land geboren, hat sie es bis ganz nach oben geschafft. Die Geschichte ist banal, weil perfekt. So perfekt, dass man schon damals daran hätte zweifeln müssen. Aber in den USA der späten 1990er Jahre zweifelt man nicht. Man berauscht sich am wirtschaftlichen Aufschwung, den der Globalisierungsschub mit sich bringt. Die New York Times schreibt von einem »fetten, tagträumenden Amerika«.
Die Liebe zwischen Britney Spears und Justin Timberlake zerbricht 2002. Es ist eine hässliche Trennung. In Interviews inszeniert sich Timberlake als Opfer und zerstört das Bild der reinen Britney. Er prahlt, Sex mit ihr gehabt zu haben, und bezeichnet ihre Jungfräulichkeit als Lüge. Später veröffentlicht er mit »Cry Me A River« einen Rachesong, in dessen Video er das Bild von Spears als eiskalter Freundin zeichnet, die ihn betrügt und ihm das Herz bricht. Timberlake tut, was erst Jahre später einen Namen erhalten sollte: Slut-Shaming. Und die Medien machen mit. Während Timberlake die Trennung nutzt, um seine Solokarriere zu lancieren, verliert Spears ihre Glaubwürdigkeit als Künstlerin. Sie veröffentlicht zwar weiter Musik, aber die Presse ist an anderem interessiert. »Wie echt ist Britneys neuer Busen?«, »Ist sie wirklich noch Jungfrau?«, »Britney kann nicht mehr« lauten die Überschriften nun auch in der Bravo, die nur wenige Jahre zuvor Spears als Pop-Prinzessin gefeiert hat. In einem 2003 ausgestrahlten Interview des amerikanischen Senders ABC fragt die Moderatorin die damals Zweiundzwanzigjährige in Anspielung auf Timberlake: »Was hast du nur getan?« Sie spricht dem empörten Publikum damit aus dem Herzen.
Der Umgang mit Britney Spears gewährt einen atmosphärischen Einblick in die späten 1990er und die frühen 2000er Jahre, als ein noch weitgehend ungebremster Sexismus die Berichterstattung bestimmt.
Tun zwei Erwachsene etwas moralisch Verwerfliches, trägt die Schuld dafür die Frau. Spears ist da kein Einzelfall.
Von ihr lassen sich Parallelen ziehen – etwa zur Hotelerbin Paris Hilton, die sich für einen Amateurporno rechtfertigen muss, den ein Exfreund gegen ihren Willen veröffentlicht hat. Und zu Monica Lewinsky, die nach der Enthüllung ihrer Affäre mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton als Schlampe und Ehezerstörerin bezeichnet wird. In allen drei Geschichten haben Journalisten die Frau mit intimen Fragen traktiert. Geglaubt haben sie dem Mann.
Britney Spears ist fortan eine andere. Adieu Lolita, Spears will nun erwachsen sein: Sie erklärt in Songs, zwar noch keine Frau zu sein, aber auch kein Mädchen mehr, singt von devoten Sexphantasien und steckt Madonna bei den MTV Video Music Awards 2003 ihre Zunge in den Hals. Das funktioniert künstlerisch und auch kommerziell, denn es ist konsequent. Spears führt das fort, was sie angefangen hat: ein Leben unter den Augen der Öffentlichkeit. Und so wie ihre Fans als Kinder zuvor bewunderten, wie Spears zugleich frech und unschuldig blieb, identifizieren sie sich als Teenager nun mit ihrer Rebellion.
Privat wird Spears’ Emanzipation zur Überforderung. Sie holt nach, was ihr lange verwehrt blieb, und stürzt sich ins Nachtleben von Los Angeles. Paris Hilton und Lindsay Lohan begleiten sie. Die drei sind für eine Weile das angesagteste Party-Trio Hollywoods, gleichermaßen berüchtigt wie belächelt und wegen angeblich exzessiven Drogenkonsums das Lieblingsthema der Boulevardpresse. Als Spears dreiundzwanzig Jahre alt ist, heiratet sie nach einer durchzechten Nacht in Las Vegas ihren Jugendfreund Jason Alexander. Die Ehe wird nach fünfundfünzig Stunden annulliert. Noch im selben Jahr heiratet sie erneut, dieses Mal den Tänzer Kevin Federline. Mit ihm bekommt sie innerhalb von zwölf Monaten zwei Kinder; kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes trennen sich die beiden. Es folgen die Scheidung und ein Sorgerechtsstreit, den Spears verliert.
Die schleichende Eskalation von Britney Spears geschieht in einer Zeit, in der in den USA etwas Grundlegendes zu wanken beginnt. Der Boom der 1990er ist vorbei, die Stimmung kippt. Am Himmel explodiert eine Raumfähre, die Häuserpreise erreichen ein Allzeithoch und das Land steckt in zwei Kriegen, wobei in einem so viele amerikanische Soldaten sterben, dass die Republikaner die Zwischenwahlen im November 2006 verlieren. Noch erkennt man nicht, wofür die einzelnen Ereignisse später einmal stehen werden. Doch das Fundament, auf dem der amerikanische Traum gebaut ist, bröckelt. In zynischer Weise ist Spears’ Biographie davon Spiegelbild und Symptom zugleich.
An einem Dienstagabend im Februar 2007 fällt Spears eine der wenigen eigenmächtigen Entscheidungen ihres Lebens. Im San Fernando Valley betritt sie ein Coiffeurgeschäft, greift zum Rasierapparat und schneidet sich eine Glatze. Am selben Abend lässt sie sich mit übergezogener Kapuze in einem Tattoostudio zwei Kussmünder auf das Handgelenk stechen, während sich Dutzende von Schaulustigen und Fotografen vor dem Schaufenster drängeln. Tage später attackiert Spears das Auto eines Paparazzos mit einem Regenschirm.
Kein Absturz eines Stars wird so gnadenlos dokumentiert wie der von Britney Spears.
Fast jeden Tag gibt es neue Meldungen und vor allem Bilder: Britney Spears, wie sie weinend in einem Café sitzt; Britney Spears, wie sie mit ihrem acht Monate alten Baby auf dem Schoß Auto fährt; Britney Spears, wie sie auf dem Gehweg stolpert und beinahe ihren Sohn fallen lässt. In einer amerikanischen Quizshow werden hundert Leute gefragt, was Spears im Jahr 2007 alles verloren hat. Richtige Antworten: ihre Kinder, ihre Haare, ihren Verstand. Die Nachrichtenagentur AP lässt vorsorglich einen Nachruf auf sie schreiben.
An einem Januarabend im Jahr 2008 verschanzt sich Spears mit einem ihrer Söhne im Badezimmer ihres Hauses am Mulholland Drive. Später fahren mehr als zwanzig Polizisten vor. Sie kommen mit einem sogenannten »5150«, einer Verordnung, die laut kalifornischem Gesetz einen »unfreiwilligen psychiatrischen Gewahrsam« vorsieht. Paparazzi-Bilder zeigen, wie Spears auf einer Krankentrage aus ihrem Haus und in einen Rettungswagen geschoben wird. Danach wird sie zur Universitätsklinik UCLA gefahren und in die geschlossene Abteilung eingeliefert. Zeitgleich zu Spears’ Absturz bricht in den USA die Finanzkrise aus. Millionen von Menschen verlieren ihre Arbeit. Der American Dream vom Aufstieg aus dem Nichts, er erscheint vielen plötzlich wie ein Witz. Wie passend, dass eine Frau, die diesen Traum zu leben schien, nun die Kontrolle über das eigene Leben verliert. Wie tröstlich, dass man ihr dabei zuschauen kann. Was lenkt besser vom eigenen Scheitern ab als fremdes, noch größeres Unglück?
Bis zu diesem Zeitpunkt ist Britney Spears’ Geschichte eine klassische Celebrity-Tragödie. Eine Sängerin, die früh zum Weltstar wird, stürzt ebenso früh wieder ab. Was Spears passiert, hat man bei anderen auch schon gesehen. Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse, sie alle fielen tief und starben mit siebenundzwanzig Jahren. Bei Britney Spears aber geschieht etwas anderes. Ihre Geschichte geht weiter.
Am Morgen nach dem »5150« beantragen Spears’ Eltern die vorläufige Vormundschaft für ihre Tochter. Am 8. Februar 2008 wird der Vater Jamie Spears als Vormund eingesetzt. »Probate conservatorship« nennt sich das Verfahren, unter dem die Sängerin von jetzt an steht. Es ist laut kalifornischem Recht für eine Person gedacht, die nicht fähig ist, für »ihre Bedürfnisse, ihre physische Unversehrtheit, für Nahrung, Kleidung oder Unterkunft zu sorgen«. In den meisten Fällen dient das Verfahren alten, dementen Menschen. Selten kommt es für jüngere Personen infrage, etwa wenn diese nach einem Unfall einen Gedächtnisverlust erleiden. Auch im Fall von Spears lautet die offizielle Begründung ihrer Eltern für die Vormundschaft: Demenz.
Britney Spears arbeitet trotz angeblicher Demenz weiter. Sechs Monate nach ihrer Entmündigung dreht sie mit MTV den Dokumentarfilm »For the Record«. Es ist das einzige Mal in den nächsten dreizehn Jahren, dass Spears über die Vormundschaft spricht. Sie sagt darin Sätze wie: »Wenn man ins Gefängnis geht, wird man irgendwann wieder entlassen. Aber bei mir hört es nie auf.« Auf den Film folgt ein Album, dann eine Welttournee. 2012 wird sie für ein Honorar von fünfzehn Millionen Dollar Jurorin bei der Castingshow »The X Factor«, ab 2013 tritt sie in Las Vegas mit einer eigenen Show auf, drei Auftritte pro Woche während vier Jahren. Dazwischen veröffentlicht sie zwei Studio- und ein Best-of-Album. Britney Spears ist in all den Jahren arbeitsam wie eine Biene. Doch um ihre Person ist es angenehm ruhig geworden. Bis zum Frühling 2019, als Spears abermals in eine psychiatrische Klinik eincheckt. Laut ihrem Management hat sie sich dort selbst einweisen lassen und nimmt eine Auszeit. Ihr Instagram-Kanal bleibt monatelang stumm.
Fans glauben der offiziellen Version nicht. Sie vermuten, dass die Sängerin zum Aufenthalt in der Psychiatrie gezwungen worden ist. Dann meldet sich ein anonymer Anrufer bei einem Fanpodcast. Er behauptet, ein ehemaliger Mitarbeiter einer Kanzlei zu sein, die für Spears’ Vormundschaft arbeite. Spears halte sich gegen ihren Willen in der Klinik auf, sagt er. Die Echtheit der Aussage wird nie bestätigt. Aber sie verändert alles.