In einem grünen Wohnviertel mitten in Minneapolis steht ein einfacher, mit Efeu überwucherter Betonbau. Im Innern dieses Gebäudes gibt es einen Ort der Stille. Die Stille dort übersteigt jede menschliche Wahrnehmungsfähigkeit. Sie wird in einem kleinen Raum konserviert, der zu diesem Zweck kostspielig technisch aufgerüstet wurde. Manche Menschen fühlen sich von dieser Stille unwiderstehlich angezogen. Sie lassen sich durch ihren lautlosen Sirenengesang anlocken – koste es, was es wolle. Denn dieser gedämmte Raum – rein technisch ein reflexionsarmer Raum – gilt manchen als der leiseste Ort der Welt.
Was mit den Menschen im Innern des fensterlosen, stählernen Raums geschieht, ist Gegenstand wilder Spekulationen. Als vor zehn Jahren ein Artikel darüber auf der Webseite der Daily Mail erschien, nahm das Interesse der Öffentlichkeit bald ungeahnte Ausmaße an. »Noch niemand hat es länger als fünfundvierzig Minuten an diesem leisesten Ort der Welt ausgehalten«, hieß es dort. Der Artikel überließ es den Leser:innen, anhand der kurzen, aber eindringlichen Äußerungen des Eigentümers Steven J. Orfield von Orfield Laboratories, einem eher zurückhaltenden Mann, selbst herauszufinden, warum das so war.
»Man hört dort sein eigenes Herz schlagen«
, wurde er zitiert. In dem echofreien Raum werde man selbst zum Geräusch. Dieses Erlebnis sei so »beunruhigend«, dass dort noch niemand länger als fünfundvierzig Minuten »überlebt« habe.
Anfang des Jahres dann verbreitete sich – anscheinend ganz spontan – über Tiktok und Youtube die Gewissheit, dass dieser Raum der Ort eines Wettstreits sei; dass man eine bestimmte Geldsumme erhalten würde, wenn man ein paar Stunden allein darin verbrächte; dass diese Summe bis zu sieben Millionen Dollar betragen könne; dass jeder versuchen könne, sich das Preisgeld zu holen. Orfield Labs wurde mit Anrufen und E-Mails bombardiert. Alle wollten plötzlich ihr Glück versuchen. In Wirklichkeit aber war nie von einem solchen Wettstreit die Rede gewesen. Der Zauber des totenstillen Raums wurde erst von der Öffentlichkeit konstruiert. Doch allem Anschein nach hatte die Firma diese Wirkung auf ihrer Webseite, auf der sie mit der sogenannten »Orfield Challenge« warb, selbst verstärkt. Für sechshundert US-Dollar die Stunde sollte man Gelegenheit bekommen, einen neuen »Rekord« über den längsten Aufenthalt in diesem Raum aufzustellen.
Es ist nicht so, dass ein Mensch in einem echofreien Raum nichts hört. Der menschliche Körper ist in ständiger Bewegung, er atmet ein und aus, bringt sich immer wieder in andere Positionen, sein Blut zirkuliert und so erzeugt er laufend Geräusche. Umfelder, die wir für extrem leise halten, sind normalerweise lauter als die Untergrenze der menschlichen Hörschwelle, die bei ungefähr null Dezibel liegt. Der Lesesaal einer Bibliothek beispielsweise bringt es auf zirka vierzig Dezibel. In einem schalltoten Raum wird das Gehör nicht empfindlicher, es fallen nur diejenigen Geräusche weg, die ansonsten die weichen, unaufhörlichen Geräusche des Körpers übertönen. Auf diese Weise können sie erstaunlich deutlich wahrgenommen werden. Komplett ruhig und somit absolut still aber ist ein Körper nur im Tod.
Die Geschichten, die darüber kursieren, dass man in diesem Raum den Verstand verlieren kann, drehen sich hauptsächlich um das Hören der eigenen Blutgeräusche. Besucher:innen echofreier Räume berichten häufig, dass sie die pulsierenden Geräusche ihres Blutes im Kopf oder sein Schwappen durch die Adern gehört hätten. Die eigenen Blutgeräusche im Körper zu hören, scheint ein Tabu zu berühren, ähnlich dem, die Herstellung von Chicken McNuggets mitzuerleben – Qualen, nach denen ein unbeschwertes Weiterleben unmöglich geworden ist.
Ob es nun am Irrewerden über Blutgeräuschen oder an den Kosten liegt: Der Rekord für den längsten Aufenthalt im Orfield-Raum lag bis vor Kurzem bei nur zwei Stunden. Ich hatte fest vor, ihn zu brechen. Mehr noch, ich wollte unbedingt das tabubesetzte Gemurmel des Blutes hören. Ich schrieb also eine E-Mail an Orfield Laboratories, um einen Dreistundenaufenthalt zu buchen, und schon ein paar Tage später stieg ich in ein Flugzeug nach Minnesota.
Die Orfield Laboratories ähneln einem Kaninchenbau: ein weitgehend fensterloses Konglomerat isolierter Räume und Gänge unterschiedlichster Größe, Länge und Form, die entlang eines gewundenen Pfades voll unübersichtlicher Kurven angeordnet sind. Das Gebäude wurde 1970 als Aufnahmestudio gebaut. Musiker:innen sollten genug Platz haben, um gleichzeitig arbeiten zu können, ohne sich bei ihren jeweiligen Sessions zu stören. In seiner Glanzzeit, als das Gebäude unter dem Namen Sound 80 bekannt war, spielten hier auch Bob Dylan und Prince.
Steven J. Orfield beschreibt seine Einrichtung als multisensorisches Labor für Designforschung. Er kaufte das Gebäude 1990. Damals befand sich der echofreie Raum innerhalb eines Lagercontainers, den Orfield schon in den 1980er Jahren erworben hatte, als der Haushaltsgeräte-Hersteller Sunbeam seine Chicagoer Niederlassung aufgab. Verschiedene Technologiekonzerne zeigten Interesse an dem Raum, berichtet Orfield, waren aber entweder nicht bereit oder nicht in der Lage, ihn vom Sunbeam-Gelände abzutransportieren, da das Unternehmen den Auszug schnell über die Bühne bringen wollte. Orfield bezahlte also Mitglieder des Football-Teams der Universität Chicago, den Raum auseinanderzubauen und auf drei Sattelschlepper zu verladen. 1994 ließ er ihn dann in der Nähe des Raums, in dem der Disco-Hit »Funkytown« aufgenommen wurde, wieder aufbauen und nutzte ihn für seine Kund:innen aus dem Bereich des Produktdesigns.
Orfields Raum ist ein sechseckiger Kasten mit zehn Zentimeter dicken Wänden aus isoliertem Stahl, der an Federn in einem größeren fünfseitigen Kasten aufgehängt ist, der sich wiederum in dem Laborgebäude befindet. Der Raum liegt hinter einem mit Scharnieren versehenen Stahlblock, der in geschlossenem Zustand der Tür eines Industriekühlschranks ähnelt und in geöffnetem Zustand der Tür zu einem Industriekühlschrank, der an einer kubistischen Skulptur einer Muppet-Show-Figur befestigt wurde. Steife braune Fiberglaskeile schieben sich von allen Seiten in den Raum. Die aus dem Boden ragenden Keile befinden sich unter einem begehbaren Gitterboden. Der ganze Raum riecht nach altem, trockenem Papier und schwankt etwas beim Gehen.
Als Orfield am Tag meines Versuchs, einen Rekord aufzustellen, vor mir den Raum betrat, klang seine Stimme sofort wie sehr weit entfernt, da die Keile die Schallwellen absorbieren. Nachdem ich ihm dann ins Innere gefolgt war, rückte ihr Klang wieder näher. Ich war gewarnt worden, dass sich menschliche Stimmen in einem schalltoten Raum so anhören, als murmelten sie einem direkt ins Ohr.
Michael Role, der Laborleiter mit grauem Pferdeschwanz, nannte mir die Bedingungen: Um einen neuen Rekord aufzustellen, müsste ich drei Stunden in dem Raum bleiben. Ob mit oder ohne Licht, sei meine Entscheidung. Ich entschied mich für völlige Dunkelheit. »Manchmal legen oder setzen sich die Leute auf den Boden, deshalb lasse ich Ihnen eine schön dicke Decke hier«, meinte Role und reichte mir eine blaue Decke, die ich auf dem Boden ausbreitete. Dann schloss er die Tür und ließ mich in lichtloser Stille allein zurück.
Am Anfang legte ich mich auf den Bauch – eine Position, die entspannt genug war, damit mein Körper sich an die fehlende Stimulation gewöhnen konnte und gleichzeitig unbequem genug, damit ich nicht sofort einschlief. Sobald ich mich auf den Rücken gedreht hatte, überkam mich das unerhörte und kurzzeitig beängstigende Gefühl, meine Ohren würden in einem Fahrstuhl nach oben sausen, während der Rest meines Körpers langsam nach unten zu fallen schien. Ich spürte eine Stille in meine Gehörgänge strömen, die tiefer schien als die Stille, die ich zuerst im Raum wahrgenommen hatte. Innerhalb von Sekunden verlor sich dieses Gefühl und alles klang – oder war so klanglos – wie zuvor. Ich fischte nach Notizblock und Stift und notierte meine spontanen Gedanken: »grauer Pferdeschwanz« und »tiefe Stille«.
Ich hatte mich ziemlich gründlich auf dieses Vorhaben vorbereitet und die Leiterin des Instituts für Neurowissenschaften an der Pittsburgher Carnegie Mellon University, Dr. Barbara Shinn-Cunningham, gefragt, ob mich das Hören der eigenen Körpergeräusche um den Verstand bringen würde. »Nein«, beruhigte sie mich. »Außer Sie verlieren gern den Verstand – was durchaus sein kann.« Das führte mich auf ein weiteres Themenfeld. Ich rief Dr. Oliver Mason an, Forscher für psychotische Störungen an der britischen University of Surrey, der Studien mit Versuchspersonen über deren Erleben in echofreien Räumen geleitet hat. »Eliminiert man alle Sinneseindrücke«, so Mason, »dann erkennt unser Gehirn, das ohnehin ständig damit beschäftigt ist, Signale aus dem Umgebungslärm zu filtern, dort ein Signal, wo objektiv gar keins ist«. Auch Menschen ohne Geisteskrankheit neigten manchmal dazu, Phantomsignale heraufzubeschwören und täten dies auch schneller als andere, so Mason. Die meisten Menschen vertrügen kurze Zeiträume – in seinen Experimenten etwa zwanzig Minuten – in lichtlosen echofreien Räumen »ganz gut«. Personen aber, die zu »ungewöhnlichen Wahrnehmungsmustern« neigten – die also denken, dass Dinge mit ihnen geschehen, obwohl das gar nicht der Fall ist –, berichteten oft, dass sie innerhalb dieses kleinen Zeitfensters Halluzinationen erleben würden.
Nachdem ich mir erste Notizen gemacht hatte, lehnte ich mich zurück und saugte die Stille auf. Das furchterregende Geräusch des rauschenden Blutes war noch nicht zu hören, aber mein Geist war in eine aufregende Halbschlafphase eingetreten, raste durch willkürliche gedankliche Konstrukte und ich musste mich anstrengen, um aufmerksamkeitsmäßig Schritt zu halten. Meine Gedanken kreisten um Personen, die mir Unrecht getan hatten und um Möglichkeiten, mich zu rächen – auf legale Weise natürlich. Gleichzeitig unterhielt mein Gehirn mich mit Memes, über die ich mich kürzlich amüsiert hatte, oder mit Erinnerungen, zum Beispiel, wie ich als Kind vor meiner Grundschule darauf warte, abgeholt zu werden. Ich dachte mir Gespräche mit Berühmtheiten aus und die Warteschleifenmusik von Delta Air Lines, die ich mir kürzlich über eine Stunde lang anhören musste, schickte Mamboklänge durch meinen Kopf.
Fast wäre ich dabei eingeschlafen, obwohl ich es noch immer nicht geschafft hatte, einen Blick auf die überwältigend schrecklichen Abgründe des Bewusstseins zu erhaschen, die sich angeblich beim Hören des eigenen Blutstroms auftun. Ich wälzte meinen Kopf mehrmals heftig hin und her und versuchte so, mein Blut zum Schwappen zu bringen. Zwar konnte ich keine Flüssigkeitsbewegungen feststellen, dafür war das Rascheln meiner Haare sehr laut, zu laut; ich band es zusammen, um es ruhigzustellen.
Angeregt durch meine Haare begann ich empirische Daten über leise Dinge zu sammeln, die hier laut waren. Wissen Sie, was laut war? Meine Kopfhaut zu massieren oder meine Augenbrauen hochzuziehen. Selbst die Kaubewegungen meiner Zähne erzeugten einen Widerhall im Kopf. Das Rascheln des Papiers, wenn ich Notizen machte, war ebenfalls extrem laut. Aber sobald ich mich nicht mehr bewegte, kehrte die Stille zurück, so wie die Flut Fußabdrücke im Sand verwischt.
Da es keine Bezugspunkte gab, war mein Zeitempfinden in der Kammer eigenartig verändert – oder besser gesagt, ich wurde von der Sorge geplagt, dass mein Zeitempfinden eigenartig verändert sein könnte. »Was, wenn ich erst seit fünfzehn Minuten hier drin bin?« Dieser panikartige Gedanke flatterte stundenlang wie eine gefangene Motte in meinem Bewusstsein herum. Und so ist es schwer zu sagen, wann genau diese nächste Sache sich ereignete. Sagen wir mal, es war nach etwa zwei Stunden: Ich lag ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten auf der Decke und versuchte zum (sagen wir mal) vierzigtausendsten Mal, mein Blut zu hören. Ich wälzte mich auf den Rücken und dabei durchfuhr mich blitzartig eine nervöse Erregung. Da war sie, meine erste visuelle Halluzination: ein heller Lichtstreifen in der Dunkelheit. Ich starrte den Streifen ein paar Sekunden an und wartete darauf, dass er sich in eine psychedelische Lightshow oder in das Gesicht Satans verwandeln würde.
1951 erhielt Donald Hebb, Professor an der McGill University in Montreal, ein Stipendium des kanadischen Defense Research Board (begeistert unterstützt durch die CIA), um die Auswirkungen des Entzugs von Sinnesempfindungen zu untersuchen. In einem der Experimente wurden Hebbs Proband:innen – alles Student:innen – in einen kleinen Raum geführt und angewiesen, Handschuhe und Armstulpen aus Pappe sowie durchsichtige Plastikvisiere anzulegen, um damit ihre Berührungswahrnehmung und das Sehvermögen einzuschränken. Ein u-förmiges Schaumgummikissen und das anhaltende Brummen einer Klimaanlage dämpften das Hörvermögen. Man sagte ihnen, sie bekämen zwanzig Dollar pro Tag dafür, untätig im Bett herumzuliegen. Kaum jemand aber verdiente schließlich mehr als vierzig oder sechzig Dollar. Viele berichteten stattdessen, dass sie nach längerer Zeit der Isolation angefangen hätten, Bilder zu sehen. Die Halluzinationen seien zunächst als einfache Linien oder Lichtpunkte aufgetreten. Mit der Zeit hätten sie sich zu komplexen Mustern und schließlich zu detaillierten Szenen entwickelt. Eine Studentin gab zu Protokoll, sie habe »eine Prozession von Eichhörnchen mit Säcken über den Schultern« gesehen, »die zielstrebig durch das Gesichtsfeld marschierten«. Die Versuchspersonen, so die Forscher:innen, hätten die Bilder zunächst amüsant oder interessant gefunden, sie dann aber als zunehmend beunruhigend wahrgenommen und sich darin gefangen gefühlt.
Die helle Linie in Orfields Raum veränderte sich nicht – es sei denn, ich nahm meine Brille ab, wodurch sie unscharf wurde. Halluzinierte ich nur eine Veränderung, die beim Abnehmen der Brille gemeinhin auftritt? Ich setzte sie auf und nahm sie wieder ab. Es bestand ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Tragen der Brille und dem Verschwimmen der Linienränder. Könnte das ein raffiniertes Täuschungsmanöver sein, das mit der Erwartung meines Gehirns spielt, dass sich das Sichtfeld verändert, wenn ich die Brille abnehme? Nein! Es war ein Haarriss in der Isolierwand. Mehrere Minuten lang hatte ich in angespannter Faszination auf den Lichtstrahl der Bürobeleuchtung gestarrt, die durch diesen Riss fiel.
Was deuten wir nicht alles als ungewöhnliches Vorkommnis, nur weil man es uns im Internet so darstellt! Die einzige Halluzination, die ich auf meiner Reise an den vermeintlichen Rand des Wahnsinns erlebt hatte, war eine, die den Gehirnen anderer Menschen entsprang, der kollektiven Vorstellung nämlich, dass absolute Stille in einem Raum gefährlich sein kann. Theoretisch ist das Internet genau das richtige Instrument, um mit solchen falschen Vorstellungen gründlich aufzuräumen. In der Praxis aber funktioniert es eher wie ein Lautsprecher an einem Höhleneingang: Es verbreitet willkürlich Lärm, der immer verzerrter und kakophonischer wird, weil er von den Wänden zurückgeworfen wird. Wir, das Publikum, wissen das. Und doch beharren wird darauf, in diesem Lärm etwas Substanzielles finden zu können.
Ohne Vorwarnung wurde die Deckenbeleuchtung wieder eingeschaltet. Michael Role kam durch die Tür. Es war mir etwas peinlich, wie ich so allein im Dunkeln herumsaß, als hätte Role mich nicht schon drei Stunden vorher in dieser Position gesehen. Trotz des angenehmen Gefühls, das ich beim Verlassen des Raums verspürte – meine Zeit dort war so einlullend wie ein Spa-Besuch, nur viel teurer und weniger angenehm – reiste ich in einer melancholischen Stimmung aus Minneapolis ab. Leider gab es dafür keinen Sieben-Millionen-Dollar-Gewinn. Ich hatte nicht einmal meinen Verstand verloren.
Caity Weaver ist eine amerikanische Journalistin und Komikerin. Momentan ist sie Autorin bei der New York Times, davor arbeitete sie bei GQ und Gawker. In Zukunft dann bei der Blue Ivy Carter Presidential Library – zumindest malt sie sich das so aus.