DER PLATZ IST SCHON DA UND KEIN VERBRECHEN
Text von Europa Frohwein
Seit Anbruch der Moderne stand in Architektur und Stadtplanung die Funktionalität im Vordergrund aller Anstrengungen. Insbesondere in Deutschland sorgte der Bauboom nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs dafür, dass heute durchschnittlich fünfzig Prozent des Bestandes aus der Bauzeit zwischen 1945 und 1979 stammen. In unserer gebauten Umwelt ist die Spätmoderne damit stark überproportional vertreten – und in ihren banalen Konzepten gefangen.
Daran konnten die wenigen Ausnahmen von stadtutopischen Konzepten wie die der Situationistischen Internationale oder die Arbeit von Theoretikern wie Michel Foucault oder Roland Barthes, welche die Verantwortung der Architektur als Zeuge und Initiator kultureller Narrative sehen, nichts ändern. Auch die pluralistisch-pathetisch anmutende »Anything goes«-Haltung der Postmoderne hat – abgesehen von ästhetischen – keinen fundamental anderen Ansatz geliefert. Vorgeblich gilt beim Bauen nach wie vor der Grundsatz allumfassender Rationalität. Überall werden angeblich logische Zusammenhänge erkannt, alles vormals Baukünstlerische wird verwissenschaftlicht, logarithmisiert, quantifiziert, leider oft nach Gusto und zum Vorteil des Verfassers, frei von gemeinwohlorientierten Grundsätzen. Mit Wiederaufbau, Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum wurde nicht nur die Bauindustrie, sondern auch die Architekturlehre und die Gesetzgebung maßgeblich umstrukturiert. Bis in die 2010er Jahre war es an deutschen Architekturschulen üblich, fast ausschließlich Methoden des Neubaus zu lehren. In Gesetzgebung, Normen und Handwerk wird Reparatur, Weiter- oder Wiederverarbeitung höchstens als Ausnahme behandelt. Auch die Energiegesetzgebung berechnet ihre Effizienz nur über die Jahresbilanz. Herstellung, Wartung und Lebensdauer bleiben dabei größtenteils außen vor.
Der Anspruch an Kontrolle, Zuordnung, Quantifizierung und Ökonomisierung jedes Quadratzentimeters Boden ist in zeitgenössischen Planungsprozessen hoch, Kontrollverlust beinahe ein Verbrechen. Stand im konzeptionellen Grundsatz der Spätmoderne immerhin noch die konstruktive Funktionalität im Vordergrund, so hat sich inzwischen alles, auch die stilistische Formensprache, der privaten Gewinnmaximierung zu unterwerfen.
Dass es sich bei aller Überregulierung auch hierzulande um eine Pseudoeffizienz von Stadtplanung und spekulativem Bauboom handelt, geriet mit Beginn der Pandemie 2020 gezwungenermaßen ins gesellschaftliche Bewusstsein: Leere Straßen, stillstehende Autos, geschlossene Läden, verlassene Gewerbeflächen zeugten davon, dass das, was lange selbstverständlich und richtig schien, nicht unbedingt notwendig ist. Plötzlich ergaben sich, wenn auch notgedrungen, neue Möglichkeiten – Onlineshopping, Homeoffice, Carsharing und Spaziergang. Die längst überfällige Veränderung des Alltags machte die enorme Inflexibilität und Idiotie des baulichen Status quo schmerzhaft und grotesk bewusst.
Corona, Krieg, Ressourcenkrise zeigen, wie dringend und wie einfach möglich eine Veränderung in allen Lebensbereichen ist. Die bauliche Umwelt ist ein wesentlicher Bestandteil darin, diese Veränderungen entweder zu unterstützen oder zu verunmöglichen. Aber wie? Der Architekturkritiker Niklas Maak fordert mit einem Baumoratorium den zeitgleichen Beginn von Planung, Zielentwicklung und Zielvermittlung. Mit Blick auf die Umbrüche der vergangenen Jahre kann aber dieser konservativen Vorgehensweise nicht mehr wie zuvor vertraut werden. Der immense Bedarf an Homeoffices während der Lockdowns, die Kinder und Katzen im Hintergrund unserer Video-Calls oder das Comeback der Waschlappendusche durch die explodierenden Energiepreise ließen sich kaum mit »Ideen junger Planer« oder sogenannten Innovationen auf internationalen Bauausstellungen antizipieren. Verpflichtende Zielentwicklung und festgelegte Prozessabläufe sind hingegen Teil des Problems: Nicht nur sind sie langsam und unflexibel. Der fatale Fehler ist zu glauben, die Zukunft vorhersagen zu können, die »bessere Stadt« von schlauen Planer:innen dreißig Jahre im Voraus entwickeln zu können. Nur weil ein Projekt mal gedacht und geplant wurde, bieten Beton und Glas gewordene Antivisionen bei Weitem nicht Anreiz genug zu einer realen gesellschaftlichen Veränderung. Was aber diesen Raum zur Veränderung sehr plötzlich und unmittelbar zulässt, ist das Loch, das Pandemie und Energieknappheit in unseren Alltag gerissen haben.
Bruch, Brache Riss, Lücke, Fuge, Öffnung, Pause, Ruhe, Nichtstun: Die Stadtplanerin Sophie Wolfrum theoretisiert die neue urbane Agenda als »Porosität«. Damit greift sie einen Begriff auf, mit dem Walter Benjamin gemeinsam mit Asja Lacis 1925 in dem Essay »Neapel« den urbanen Raum als belebte Spielfläche, als öffentliche Bühne hervorhob: »Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. (…) Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich.«
Doch das Poröse, die Leere der Brache, das Konzept des Nichts ist in unserer Gesellschaft hauptsächlich negativ konnotiert – mit Verfall, Vernachlässigung, Zerstörung, Verlust und Arbeitslosigkeit. Vergessen wird dabei häufig, dass Chaos auch die Ursubstanz darstellt, nicht nur in der griechischen Mythologie, wo die gähnend klaffende Leere gleichzeitig mit der immensen Schaffensenergie verstanden wird, ob in Mann oder Frau, Gott, Ort oder Element. Aus furchtbarer und fruchtbarer Kraft ging die Welt hervor. Moderne Klassiker haben diese Verknüpfung aufgegriffen: Das sich ausbreitende »Nichts« in Michael Endes »Unendlicher Geschichte«, die dreiminütige Finsternis zu Beginn des Films »2001: Odyssee im Weltraum« verweisen auf die fundamentale, archaische Angst des Menschen vor dem Nichts, die Auslöschung von allem Bekannten als brutales, erschreckendes Vorzeichen unendlicher und universaler Schöpfungskraft. Weil uns die Vorstellung davon fehlt, wo es hingehen soll, blicken wir in einen Abgrund und können die darin liegenden Möglichkeiten nicht realisieren. Als hätte Bastian keine Ideen, um den Dingen Namen zu geben, oder der Affe keinen Knochen, um ein Werkzeug daraus zu machen. Es scheint also unumgänglich: Pausen, Lücken, Brüche, Brachen müssen eingefügt, übrig gelassen, überlassen werden, um Neues nachhaltig entstehen zu lassen, um kurzfristig reagieren zu können, um flexibel und offen für Veränderung zu sein und um Mitgestaltung außerhalb von Fachkreisen zu ermöglichen, kurz: um Kreativität möglich zu machen.