DAS GRÖSSTE RAUBTIER DES MEERES
Eine Fabel von Christian Gottwalt
Ahnen sie, wie es ist, ein Leben lang zu schwimmen, ohne Pause, ohne Unterlass? So wie ihr Bauch sich hebt und senkt, so schlägt unsere Schwanzflosse wie von ganz allein von Seite zu Seite und treibt unseren Körper voran, der Knorpel des Rückgrats in sanft fließender Bewegung. Wir ziehen Wellen durchs Wasser, zeichnen Sinuskurven ins Blau.
Hin und her und her und hin. Der geschmeidige Leib ein einziger Muskel, tausend Fasern stark, weiße und rote, schnelle und ausdauernde, kalte und warme. Wir spüren beim Schwimmen unser Zentrum, die Stelle zwischen den Kiemen und den Brustflossen, um die sich alles dreht und windet. Jede Bewegung unseres mächtigen Hinterleibs verlangt umgehend nach einem Ausgleich, nach einer Gegenbewegung, das ist ein physikalisches Gesetz. Und so pendelt auch unser Kopf hin und her und her und hin. Vielleicht ist es das, was ihnen Angst macht?
Ahnen sie, wie es ist, beim Schwimmen zu schlafen, mit offenen Augen? Tränen fließen keine, warum auch, wir schwimmen ja in salzigem Wasser. Interessiert es sie, wie es sich anfühlt, durch das Schwarz zu gleiten? Sich einen Weg hineinzuschneiden, während das Wasser einen fortwährend durchströmt, zum Spritzloch hinein und zu den Kiemen hinaus? Wir müssen schwimmen, müssen uns durchs Wasser arbeiten, Stillstand bedeutet für uns Hochseehaie den Tod. Wir ersticken, weil wir kein Wasser schlucken können. Wir sinken in die Tiefe, weil wir keine Schwimmblase besitzen. Man kann nicht alles haben.
Was ich von mir erzählen kann, habe ihm zu verdanken. Der Große hat mir beigebracht, was ein junger Hai wissen muss. Auch das mit dem Fressen, natürlich. Vorsicht vor Fischen, die nicht fliehen. Vorsicht vor Fischen, die sich nicht wehren. Und ganz besondere Vorsicht vor Fischen, die an einer Schnur hängen.
Großer, warum hast du die Makrele gefressen? Du wusstest es doch. Aber ich kann dich nicht fragen, du hast unser Element verlassen, hängst oben in ihrem, dem windigen und dünnen, das dem Körper keinen Widerstand bietet. Ich höre, wie dein Leib gegen etwas Festes schlägt und es zum Dröhnen bringt. Deine Schläge, die ich spüre, deine Schläge gegen dieses Etwas, das zur Hälfte aus der Luft ragt, sind so laut, dass sie schmerzen. Mein Ferntastorgan ein einziger Alarm. Ach Großer, warum hast du nur die Makrele gefressen?
Ich kannte keine Angst, woher auch. Alle flüchten vor dir, wenn du ein Hai bist, das ist man zeitlebens gewohnt. Keiner kommt dir zu nahe, höchstens die Robbe oder der Seehund, wenn du sie fressen willst. Dann schlagen sie auf dich ein in ihrem Todeskampf. Aber damit lernt man umzugehen. Zunächst ein schneller Biss, dann Abstand halten und kreisen. Und erst wieder hin, wenn das Futter kaum mehr Leben in sich trägt. Aber das hier ist anders. Ich spüre deine Todesangst und sie steckt mich an. Ich fühle dein Herz rasen und meines rast mit. Und nichts, was ich tun kann, um dir zu helfen, außer dieses dröhnende Etwas, gegen das du schlägst, fortwährend zu umkreisen.
Jetzt kann ich dein Blut riechen. Oh Mutter Meerin, ich rieche sein Blut! Ich kann nichts mehr spüren, nichts mehr empfinden, weiß nicht länger, wo es in die Kälte geht oder wo das Licht des Tages herkommt. Ein Fisch erscheint, eine einzelne Makrele. Nein, ich fresse diese Makrele nicht, sie hängt an einer Schnur und bringt den sicheren Tod. Nicht hineinbeißen! Aber sie riecht so lecker und der Hunger ist groß. Nicht hineinbeißen! Du musst es dir verbieten.
Endlos die Schur, die das dröhnende Etwas hinter sich herzieht, hundert Seemeilen lang, hunderte von Makrelen hängen an eigenen Fäden alle hundert Meter lotrecht in die Tiefe. Hier und da zappelt ein Hai daran, der nicht an sich halten konnte und zubiss. Dummer Hai, warst du unachtsam in der Haischule? Hat man dir nicht beigebracht, was die haarigen nackten Lufttiere auf ihren schwimmenden Inseln mit uns machen?
Ach Großer, sage mir, warum hast du die Makrele gefressen? Warum konntest du dich nicht beherrschen? Hin und her und her und hin. Sinuskurven ziehen, Wellen zeichnen und immer im Kreis herum.
Plötzlich bist du wieder im Wasser. Du blutest, aber du lebst. Warum bewegst du dich nicht? Was stimmt nicht mit dir, mit deinem Körperzentrum, um das sich alles dreht und windet? Warum schlägt deine Rückenflosse nicht? Warum geht es bei dir nicht hin und her und her und hin?