Andersbeziehung

Text von Tobias Rüther

Lesedauer: 9 Min.

Filme sind Orte, an die wir aus dem Alltag entfliehen. Wir wollten von dem FAZ-Autor Tobias Rüther wissen: Warum enden Filme, die vom Dazwischen zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung handeln, eigentlich immer bei der Liebe?

Sex. Wäre das schon mal ausgesprochen. Nicht, dass er sonst im Weg steht bis zum Ende dieses Textes, der davon handeln soll, warum Sex immer im Weg steht, sobald es um romantische Komödien geht, in denen Sex auch immer so lange im Weg steht, bis allen klar ist, dass der Weg von Anfang an wieder mal das eigentliche Ziel gewesen ist. Und nicht Freundschaft. Auch wenn noch so viel davon die Rede war. Nein, Boy meets Girl = Sex. Harry meets Sally = Sex.

Oder Boy meets Boy = Sex. Oder Girl meets Girl = Sex. Denn die Unterhaltungsindustrie wandelt sich seit einiger Zeit. Sie wird queerer, sie wird patchworkiger, sie inszeniert nicht mehr allein die Kernfamilie, sie holt auch das Marginalisierte in den Mainstream und schlägt Profit daraus: Sobald sich das Identifikationspotenzial vergrößert, vergrößert sich auch das Publikum, das sich angesprochen fühlen könnte, der Streaming-Anbieter Netflix hat das sehr genau verstanden und Identitätspolitik in sein Businessmodell integriert. Aber diese neue Diversität bedeutet nicht, dass sich gleichermaßen auch die Vorstellungen davon geändert hätten, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren sollen, wenn sie sich dann gefunden haben. Am Ende bleibt das Ideal ein Bund. Geschlossen in Liebe. Und Treue.

 

Harry meets Sally = Sex.
Oder Boy meets Boy = Sex.
Oder Girl meets Girl = Sex.
Immer ist das Ergebnis wohl Sex.

 

Die Unterhaltungsindustrie öffnet sich also unaufhaltsam, lässt hinter sich, dass Liebe die exklusive Geschichte von Mann und Frau sein muss – aber das bedeutet nicht, die Konvention gänzlich aufzugeben. Die Konvention, dass Liebe nicht ihren Zweck und Sinn erfüllt, dass es nicht wahre Liebe sein kann, wenn sie platonisch bleibt, wenn kein Sex oder Verpartnerung im Spiel ist: Sie überdauert den Wandel.

Vielleicht, weil die letzten romantischen Seelen in Hollywood zu Hause sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man lieber nicht damit herumspielen möchte, was wahre Liebe ist. Und zwischen wem sie bestehen darf und in welcher Form sie sich zeigt. Die Vorstellungen davon, wer sich lieben darf, wandeln sich, nicht aber davon, was diese Liebe ist und was sie vor allem wollen soll.

Die amerikanische Filkomödie »When Harry Met Sally« aus dem Jahr 1989, behandelt Fragen wie »Können Männer und Frauen jemals einfach nur Freunde sein?«, löst sie aber nicht auf. 

Eine herausragende BBC-Serie der jüngsten Zeit, »Trigonometry«, erzählt von einem Paar, Kieran und Gemma, das eine neue Mitbewohnerin in sein Apartment aufnimmt, und bald stellen sie fest, dass sich alle drei untereinander lieben, dass sie alle drei also auch lieben, dass sich alle drei lieben. Wie diese britische Serie das inszeniert, ist witzig und traurig und umwerfend – aber auch hier liegt die Antwort: in erfüllter Liebe. Und Treue. Nur halt diesmal zu dritt.

Selbst dort, wo die Darstellung von Freundschaft und Liebe die Konventionen der Kernfamilie oder der Heterosexualität überwunden hat, wird beides in einem konventionellen Rahmen gehalten.

Es gibt kaum etwas risikoloseres als eine romantische Komödie. Es gibt inzwischen sogar romantische Komödien über die Berechenbarkeit romantischer Komödien – wie beispielsweise »Isn’t it romantic?« mit Rebel Wilson. Und natürlich gibt es sie, dafür sind Hollywood und Netflix ja da, und natürlich enden auch diese ironischen romantischen Komödien im Happy-End einer Verpartnerung.

 

 

In »Isn't It Romantic« findet sich die Schauspielerin Rebel Wilson in einer Welt wieder, in der sich alles um sie herum wie in einer klischeehaften romantischen Komödie abspielt.

Freundschaft, Liebe, beides ist unendlich individuell. Aber die Antwort darauf, in welcher Form das alles enden und dann auch noch halten soll, die Antwort, wie das Happy-End aussieht, bleibt trotzdem immer die gleiche. Selbst dort, wo die Darstellung von Freundschaft und Liebe die Konventionen der Kernfamilie oder der Heterosexualität überwunden hat, wird beides in einem konventionellen Rahmen gehalten. In dem Sinne, dass ein Zusammenleben zweier oder mehrerer Menschen (m/w/d) auf einen Bund in Liebe hinauslaufen muss.

Aber ob die Menschheit alle denkbaren Formen des Zusammenlebens gefunden und erkundet hat, die es theoretisch geben könnte, ist schon die Frage.

All we need is love. Aber die Frage ist ja, warum romantische Liebe die Antwort auf alles sein soll. Oder vielmehr, warum man anderen Konstellationen erfüllten menschlichen Lebens irgendwie doch misstraut, wenn sie platonisch bleiben. Als sei damit nicht die größtmögliche Bindekraft gewährt, als könnte man damit nicht Staat machen, wenn Reproduktion und sexuelles Interesse aus dem Spiel sind.

Komisch, man weiß gar nicht, wie man das nennen soll. Es ist ja nicht verklemmt oder so, es ist alles andere als das, es erkennt ja an, wie elementar sexuelle Bedürfnisse sind für Gesellschaften. Aber irgendwie scheint freundschaftliche oder platonische Liebe reizlos fürs Geschichtenerzählen, obwohl die Lebenserfahrung der kompletten Weltbevölkerung jeden Tag den empirischen Beweis dafür liefert, dass es ohne Freundschaft nicht geht. Auch die Pandemie hat das gezeigt. Es sorgen halt nicht nur Kernfamilien füreinander.

 

 »Trigonometry«, erzählt von einem Paar, Kieran und Gemma, das eine neue Mitbewohnerin in sein Apartment aufnimmt, und bald stellen sie fest, dass sich alle drei untereinander lieben.

Als ich vor Jahren ein Buch über den sentimentalen und (jedenfalls für mich) hoch ansteckenden Kitsch von Männerfreundschaften schrieb, stieß ich dabei auf ein älteres Buch des amerikanischen Autors Stuart Miller. Männerfreundschaften sind ein zwischenmenschliches Phänomen mit einer bis zur Bibel zurückreichenden kulturellen Produktion, das ist auch Teil des Problems, weil sich da ungute heteronormative Muster und Vorbilder gefestigt haben, die Männer hemmen können, emotional. Miller, von Hause aus Literaturwissenschaftler, hatte sich also Anfang der achtziger Jahre aufgemacht, über Männerfreundschaften zu schreiben. Weil ihn interessierte, warum und wozu Männer andere Männer in ihrem Leben brauchen. Bei der Recherche wurde er dann ständig von seinen Gesprächspartnern – oft kultivierten Leuten, Professorenmännern, Geschäftsmännern – davor gewarnt, mit so einem Buch doch nur für schwul gehalten zu werden. Warum würde er sonst diese Fragen stellen? »Scheinbar sind die einzig anregenden menschlichen Beziehungen, die man sich vorstellen kann, erotischer Natur«, notierte Miller einigermaßen entnervt. Das ist ein wahrer Satz, und er gilt aber eben offenbar auch für romantische Komödien, in denen am Ende ein Harry und eine Sally – oder eine Sally und eine Sally, oder ein Harry und eine Sally und eine Sally – zum Paar werden müssen, weil eine andere Konstellation nicht denkbar ist, damit die Menschheit überlebt. Freundschaft bleibt Trostpreis.

Alleineleben ist eine vielgeübte Praxis, aber in Filmen – oder Büchern – wird sie so gut wie nie als erstrebenswert ausgemalt.

Wie »Trigonometry« zeigt, ist Polyamorösität inzwischen auch im Unterhaltungsfernsehen angekommen. Aber ob die Menschheit alle denkbaren Formen des Zusammenlebens gefunden und erkundet hat, die es theoretisch geben könnte, ist schon die Frage. Der Berliner Autor Daniel Schreiber hat gerade ein Buch über seine Entscheidung geschrieben, allein zu leben. Am Erfolg dieses Buchs lässt sich ablesen, in welchem Ausmaß diese Frage offenbar nicht nur ihn umtreibt. Dass man diese Alleinlebenden für gewöhnlich »Singles« nennt, zeigt nebenbei auch, was der Maßstab sozialen Verhaltens ist, nämlich nicht Vereinzelung, sondern Vervielfältigung.

 

Ständig allein sein? Die Rolle von Sally Albright, gespielt von Meg Ryan, basierte die erfolgreiche Drehbuchautorin und Filmemacherin Nora Ephron, auf sich selber und die Erfahrungen ihrer Freundinnen.

Ständig geht es in »Allein« aber auch um die kognitiven Dissonanzen, die Schreibers Entscheidung bei ihm selbst auslösen, obwohl er sich ja freiwillig zu seinem Leben entschieden hat. Trotzdem kommt er sich manchmal sonderbar dabei vor, zweifelt er, nicht der Norm zu entsprechen, indem er allein lebt. Und allein bleibt. Die Norm prägt auch ihn, obwohl ihn die Norm gar nicht interessiert. Schreiber gesteht das im Gespräch ein, aber danach befragt, ob er in seinem Buch nicht trotzdem einer Utopie menschlicher Existenz auf der Spur sein könnte – ein Leben allein, aber aufgehoben und getragen in vielen und vielfältigen Freundschaften –, reagiert er etwas überrascht. Eine Utopie, darauf sei er gar nicht gekommen. Aber sie steckt doch darin. Und wenn es nur der utopische Gedanke ist, dass es eine theoretisch sehr große Zahl an Konstellationen geben könnte, in denen sich Menschen in einer Gesellschaft organisieren. Allein. Oder kommunal. Zu siebt meinetwegen.

Alleineleben ist eine vielgeübte Praxis, aber in Filmen – oder Büchern – wird sie so gut wie nie als erstrebenswert ausgemalt. Wenn, dann sitzt da jemand auf dem Bett und heult singend in einen Eimer Eiscreme wie Bridget Jones, »all by herself, don’t wanna be, all by herself«. Ein Film über einen Mann – oder eine Frau und so weiter –, mit sich selbst im Reinen, integer, fair, aufgeklärt, mit bindungslosem Sex ohne Reue oder Verletzungen, aber vielen Freundschaften – so was müsste erst noch gedreht werden. Irgendwie löst dieser Plot sofort Unbehagen aus, auch bei mir. Die Kräfte der Konvention sind stark.

Aber auch platonische Liebe ist eine viel geübte Praxis, und auch sie wird äußerst selten als erstrebenswert ausgemalt. Warum müssen Filme, die von dem Dazwischen zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung handeln, immer bei der Liebe enden? Vielleicht ist die lapidare Antwort: weil Freundschaft chronisch unterschätzt wird.

Dieser Artikel ist thematisch an die Produktion Giuditta der Bayerischen Staatsoper angelehnt.

Bildnachweis:  Alamy (4), Warner Bros. Pictures, House Productions Ltd. 
 

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